Wie geht Schule besser?
Irgendwie sind wir doch alle unglücklich mit dem deutschen Schulsystem. Deswegen ist heute der Netzlehrer im Aufzug zu Gast: Bob Blume ist Bildungsinfluencer, Autor, Podcaster – und vor allem Lehrer. Er hat ein Buch darüber geschrieben, was er alles an der Schule hasst und setzt sich deshalb dafür ein, dass sich etwas ändert. Wir sprechen darüber, ob gemeinsames Lernen die Lösung wäre und ob Inklusion an Schulen eine Utopie ist. Bob erzählt von den kleinen Herausforderungen im Schulalltag, seinen großen Learnings aus der Corona-Zeit und warum er glaubt, dass ein verpflichtendes soziales Jahr eine große Orientierungshilfe wäre.
Aufzugtür auf für eine knappe Doppelstunde mit Bob Blume!
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Irgendwie sind wir doch alle unglücklich mit dem deutschen Schulsystem. Deswegen ist heute der Netz-Lehrer im Aufzug zu Gast. Bob Blume ist Bildungs-Influencer, Autor und Podcaster und vor allem Lehrer. Er hat ein Buch darüber geschrieben, was er alles an der Schule hasst, und setzt sich deshalb dafür ein, dass sich etwas ändert. Wir sprechen darüber, ob gemeinsames Lernen die Lösung wäre und ob Inklusion an Schulen eine Utopie ist oder nicht. Bob erzählt von den kleinen Herausforderungen im Schulalltag, seinen großen Learnings aus der Coronazeit und warum er glaubt, dass ein verpflichtendes Soziales Jahr eine große Orientierungshilfe wäre. Also, nicht länger warten, Aufzugtür auf für eine knappe Doppelstunde mit Bob Blume.
Hallo und herzlich willkommen zu einer weiteren Folge von Im Aufzug. Diesmal habe ich einen ganz besonderen Gast zu Gast. Da werde ich jetzt wahrscheinlich gleich Ärger von ihm bekommen, von dieser schönen Rhetorik. Und zwar von dem allseits bekannten Netz-Lehrer, in Wahrheit heißt er Bob Blume. Und wir unterhalten uns über das Schulsystem, über das Bloggen, das Internet, vielleicht auch über seine unbekannte Herkunft und über sein Buch. Hallo Bob, wie geht’s dir?
00:02:13Bob Blume: Hallo, schön, dass ich da sein kann. Oh, das ist richtig schön geräumig. Solche Aufzüge mag ich, vor allen Dingen, wenn man so lange drin bleibt. Super, dass ich da sein kann!
00:02:22Raul Krauthausen: Gibt es einen Awkward Moment, den du mal in einem Aufzug erlebt hast?
00:02:26Bob Blume: Ehrlich gesagt, habe ich, glaube ich, schon einige Awkward Moments in Aufzügen erlebt. Ich finde, Aufzug fahren ist sozusagen der Awkward Moment schlechthin. Also vor allen Dingen, wenn es relativ voll ist und man so Nase an Nase steht. Ich glaube, das, was ich so ganz konkret vor Augen habe, ist eher kein Aufzug, sondern diese Gondeln. Wenn die zu voll sind, und man steht dann sozusagen tatsächlich Nase an Nase mit irgendeiner Person und versucht, zwanghaft an ihr vorbeizugucken. Das empfinde ich immer als etwas unangenehm.
00:03:00Raul Krauthausen: Guckst du dann auch zwanghaft vorbei, oder guckst du dann bewusst an?
00:03:03Bob Blume: Also mittlerweile gucke ich, glaube ich, auch vorbei. Früher habe ich die Leute angeguckt, also jetzt nicht in Aufzügen, sondern in öffentlichen Verkehrsmitteln. Meine Mutter hat mir zum Beispiel gesagt, dass ich früher, da war ich etwas jünger als jetzt, bin ich zum Beispiel zu Leuten hingelaufen, zu Omas und Opas und hab gesagt: Du siehst aber alt aus! Aber die haben wohl immer ganz gut reagiert. Ja!
00:03:27Raul Krauthausen: Super Einstieg! Hast du einen Life Hack, der vielleicht für uns alle hilfreich sein könnte, wie man früh aufstehen lernt?
00:03:35Bob Blume: Oh, sehr, sehr gar nicht! Weil, also bei mir ist das Gegenteil der Fall. Das frühe Aufstehen macht mich fertig, und es macht mich so fertig – also ich glaube auch, dass das bei mir biologisch bedingt ist, wenn ich vor acht Uhr aufstehen muss, was einfach fast immer der Fall ist. Also, ich muss so um sechs Uhr aufstehen. Dann habe ich etwas, was sich sehr nah an dem Gefühl anlehnt, dass ich in depressiven Phasen hatte. Das dauert nur nicht so lange. Also, ich wache morgens um sechs Uhr auf und hasse erst mal die Welt. Es ist ganz schlimm! Und so nach dem zweiten, dritten Kaffee reguliert sich das dann. Und ich muss sozusagen aber natürlich auch eine Doppelstunde am Anfang halten. Das heißt, da schauspiele ich dann für die Schülerinnen und Schüler ein bisschen, damit die nicht mitkriegen, wie es mir geht. Und ab 9:30 relativiert sich das dann. Also, falls mir jemand einen Tipp geben könnte, was frühes Aufstehen angeht, da wäre ich absolut bei.
00:04:33Raul Krauthausen: Ich habe früher beim Radio gearbeitet, und die Morning Show beginnt immer um fünf. Und das heißt, die mussten um drei Uhr aufstehen und auch richtig hart. Ich meine, natürlich ist für das Radio arbeiten auch irgendwie toll und das machen Leute auch in der Regel freiwillig. Allerdings fand ich das so geil, dass der Chefredakteur dann irgendwann den Kolleg*innen die Freiheit gegeben hat, auch morgens mal schlechte Laune On Air zu haben, weil das authentisch sei.
00:04:59Bob Blume: Ja, ich meine, ich verstehe das das. Das ist eigentlich gut. Bei mir ist es zum Beispiel auch so, wenn ich schlechte Laune habe – also, Radio ist jetzt ein bisschen was anderes. Ich mache manchmal ja Moderation mit SWR 3, und da soll ich das dann morgens teasern, so um 6:40.
00:05:18Raul Krauthausen: Da haben wir immer eine geile Radiostimme, das ist mir jetzt schon aufgefallen.
00:05:21Bob Blume: Ja, das ist total nett, aber was ich glaube ich nicht hinkriegen würde, wäre so eine Morning Show, in der man dann so sagt: „Hey, Zeus! Sag mal, ist es dir eigentlich auch schon aufgefallen, dass morgens die Vögel immer…“ weil ich denke so: Boah ey, komm! Und da muss ich mich immer wahnsinnig anstrengen – genau, ist wirklich so: Du eigentlich, sprich mich bitte jetzt einfach nicht an. Aber was ich tatsächlich mache, ist, dass ich jetzt auch in Klassen, zum Beispiel den Schülerinnen und Schülern sage: Passt mal auf, Leute. Irgendwie, ich hab heut nen schlechten Tag, liegt nicht an euch, aber seid so ein ganz kleines Bisschen gerade mal sensibel. Weißt du, weil ich möchte halt nicht, dass die denken, was ja relativ schnell passieren kann, dass sie irgendwas ausgefressen haben. Sondern dann sagen: Gerade bin ich mit dem falschen Fuß aufgestanden oder halt zu früh, was leider häufig der Fall ist.
00:06:11Raul Krauthausen: Und haben die dafür Verständnis?
00:06:13Bob Blume: Ja, weißt du, ich frage die ja nicht einzeln ab. Aber, also, Schülerinnen und Schüler, wenn man auf einer gewissen Augenhöhe ist, und damit meine ich jetzt nicht irgendwie bester Kumpel, sondern Augenhöhe im Sinne von: man ist halt transparent in dem, was man tut und wie man das tut, da haben die auf jeden Fall Verständnis. Das merkt man halt daran, also die sagen dann nicht alle: Oh, Herr Blume, ja klar, wir haben Verständnis. Sondern man merkt es zum Beispiel daran, dass die dann vielleicht nicht ganz so wild sind, wie sie sonst sind oder so. Also, da habe ich echt, mit so einer Transparenz und offenen Kommunikation in allen Bereichen, auch im Netz, habe ich echt gute Erfahrungen gemacht.
00:06:49Raul Krauthausen: Man liest sehr viel von dir, und du bist ja auch in sehr vielen Podcasts zu Gast und machst selber auch einen ziemlich erfolgreichen Podcast beim SWR zum Thema Bildungssystem und Schule. Die Schule brennt, glaube ich, heißt er, Hurra, hurra. Die Frage, die ich mir gestellt habe, wie war denn eigentlich deine Schulzeit?
00:07:09Bob Blume: Genau: Hurra, hurra, die Schule brennt! Das ist eine wunderbare Überleitung, denn der Song Hurra, hurra, die Schule brennt, der ist von Extrabreit. Und Extrabreit, die kommen aus Hagen. Und ich bin in Hagen groß geworden, und mein Vater hat mit Extrabreit noch gefeiert. Allerdings, sagt er zumindest, nicht so viel, wie die Jungs gefeiert haben. Die waren so extra breit, dass mein Vater zum Beispiel, also ich gebe mal ein Beispiel, mein Vater hat mir sehr früh Dinge über Drogen vermittelt. Das mache ich mit Schülerinnen und Schülern übrigens auch immer mal wieder, wenn es sich anbietet.
00:07:42Raul Krauthausen: Aber theoretisch, nicht praktisch.
00:07:43Bob Blume: Theoretisch. Der hat zum Beispiel gesagt: Lass die Finger weg von LSD! Warum? Weil in diesem Extrabreit-Umkreis jemand war, der so viel Teilchen geschmissen hat, dass er irgendwann nur noch Schwarz-Weiß gesehen hat, und das ist halt nicht wieder weggegangen. Und also, da war ich dem wirklich dankbar. Zu deiner Frage: ich hatte zwölf Jahre lang eine unglaublich tolle Schulzeit, und das dreizehnte Jahr war echt beschissen, also dieses Abiturjahr. Weil ich war ja in der Waldorfschule – ich halte das jetzt aber kurz – aber in dieser Waldorfschule, all das, was man da gemacht hat ohne Noten, also das heißt von Aquarellfarben malen und schmieden und Kupfer treiben und Bücher binden und Kerzen ziehen und also tönern und töpfern und das ganze Zeug, mir hat das immer unglaublich Spaß gemacht. Aber natürlich hatten wir auch Deutsch und Englisch. Physik hatte ich nicht so viel, weil wir einfach keinen Lehrer gefunden haben, schon damals. Also, da gab es keinen großen Lehrermangel, aber an der Waldorfschule verdienen die Lehrer halt einfach auch nicht so viel. Und das war wahnsinnig toll, aber dieses letzte, dieses dreizehnte Jahr, dieses Abitur, ja, das war echt Hardcore. Und da hatten wir auch den einen oder anderen Lehrer, also vor allen Dingen einen Lehrer, der wirklich richtig ätzend war. Und also insofern zwölf Jahre hatte ich wirklich eine ganz tolle Schulzeit, Klammer auf natürlich immer mit den Dingen, die jeder von uns auch kennt, also zum Beispiel Mobbing Situationen und so hatte ich in der Schulzeit auch, das war aber eher im Fußballverein. Aber so rein von dem, was man gemacht hat, und ich habe mich immer auf die Schule gefreut, und seitdem ich – mal kurz überlegen – ich glaube seit der achten Klasse bis zur 13, bin ich auch jeden Tag über eine Stunde gefahren in die Schule. Also, ich habe da nämlich hinterher in Bochum gewohnt, beim Schauspielhaus, und bin dann nach Hagen-Haspe, mit sozusagen allen Verkehrsmitteln, die es gab, gefahren. Einfach weil ich da total gerne weiter hingehen wollte und das mir überhaupt nicht vorstellen konnte, die Schule zu wechseln.
00:09:51Raul Krauthausen: Und was war dann am 13. Jahr so schlimm?
00:09:54Bob Blume: Ja, du musst dir das ungefähr so vorstellen, da muss ich jetzt ein bisschen aufpassen, weil das sozusagen, glaube ich, nichts ist, was offiziell festgeschrieben ist. Oder es ist festgeschrieben, aber ich habe nicht noch mal nachgeguckt. Aber nach der staatlichen Logik ist es so, dass man in der Waldorfschule erst nach zwölf Jahren die mittlere Reife kriegt. Und das heißt sozusagen in der Logik, dass man nach zwölf Jahren eigentlich nur so weit ist wie Gymnasiasten nach der zehnten.
00:10:19Raul Krauthausen: Ach krass, das heißt, du musstest in einem Jahr 2-3 Jahre aufholen.
00:10:22Bob Blume: So, genau. Das ist natürlich nicht ganz richtig, weil also, wer könnte das schaffen? Aber es war schon ein richtig großes Brett. Aber wie gesagt, also ich weiß, dieses Jahr ist vielleicht so ein bisschen der Marmeladen-Fleck auf einer weißen Weste. Eigentlich war die Schulzeit ansonsten wirklich, wirklich toll und für mich natürlich auch prägend in ganz vielen Dingen, die ich mittlerweile immer noch als als Überzeugung habe.
00:10:52Raul Krauthausen: Ich habe mal gehört, dass wenn, angenommen, deine Eltern sind scheiße, oder du lebst irgendwie in prekären Verhältnissen, oder du hast keine Freunde, du bist irgendwie einsam, du lebst auf dem Land. Dass es manchmal eine Person ist, die den Unterschied machen kann in deinem Leben, die dich aus diesem Sumpf vielleicht auch rausholen kann, einfach nur, weil du spürst, weil man spürt, dass es jemand gibt, der an einen glaubt. Warst du mal dieser Mensch oder hattest du mal so einen Menschen?
00:11:22Bob Blume: Ja, das ist bei mir, glaube ich, wirklich auch klassisch: meine Mutter. Ich habe da tatsächlich gestern mit ihr noch drüber geredet, weil es ja oft in so Bildungsbiografien auch über Generationen hinweg oftmals so ein Status erhaltendes Element gibt. Also mit anderen Worten, die Kinder machen das, was die Eltern gemacht haben, auch schulisch. Das heißt, wenn die Eltern in die Hauptschule gegangen sind, gehen die Kinder in die Hauptschule, haben auch dann direkt weniger Chancen. Es gibt natürlich immer so Ausbrecher nach oben, auch nach unten. Aber eigentlich ist das oft Statuserhalt. Und bei meiner Mutter ist es so, dass die sozusagen – also ihre zwei Brüder vor ihr, die hat drei Brüder, die zwei Brüder vor ihr, die waren eben nicht im Gymnasium. Sie hat dann Fachabi gemacht und ihr kleiner Bruder sozusagen, der übrigens mein Fotograf ist und ab und zu auch mal für mich gehalten wird – manchmal schreiben mir Leute, dass das eigentlich das Pseudonym Thomas Clemens ist, dabei ist das der Fotograf, und das steht halt unter meinen Fotos – egal, jedenfalls, der ist dann ins allgemeinbildende Gymnasium gegangen. Weil meine Oma eben die Care-Arbeit gemacht hat, mit vier Kindern, und mein Opa richtig hart gearbeitet hat. Der war Maurer und hat hinterher in einer Metall-Fabrik gearbeitet, und sich da zum Beispiel sowohl Beine als auch Arme so stark kaputt gemacht, dass er für 20 Jahre seines Lebens also wirklich Morphium genommen hat. Ich habe ihn wirklich geliebt, und er hat mich auch geliebt. Aber der hat immer mal wieder gesagt: Ich kann nicht mehr, ich geh gleich hoch und häng mich auf, so nach dem Motto. Also richtig krass, weil der einfach so Schmerzen hatte. Jedenfalls lange Rede, kurzer Sinn, meine Mutter hat diesen Sprung dann aber gemacht. Nach dem Fachabi wollte die weiterlernen, die hat das Abitur nachgeholt und hat, nachdem sie und mein Vater sich getrennt hatten, angefangen, nochmal zu studieren, also mit 30. Die hat studiert und gleichzeitig drei Jobs gemacht als Alleinerziehende, und zwar in der Nachtwache. Die hat nachts Nachtwache in der Psychiatrie gemacht und tagsüber dann studiert, ist psychologische Psychotherapeutin geworden und so. Und die hat in einer Zeit, in der wir in Hagen Wehringhausen gewohnt haben, also ich sag mal, in Wehringhausen ist das so gewesen, sozusagen der soziale Status zeigt sich, wie weit man unten am Berg wohnt, und wir waren ganz unten. Oben waren die Villen, unten hat man mal immer so einen draufgekriegt. Wir hatten zum Beispiel die Dusche in unserer Küche, also ging nicht anders, und die Toilette war im Flur, im Treppenhaus, genau. Also, das heißt, es war arschkalt, und dann, das meine ich wortwörtlich, im Winter war der Arsch kalt. Gut, aber was ich eigentlich sagen will, ist, meine Mutter hat sozusagen das trotzdem geschafft, mir das Gefühl zu geben, dass man es irgendwie packen kann, wenn man arbeitet. Die ist unglaublich ehrgeizig, unglaublich uneigennützig und war immer hinterher, sozusagen auch in den Verhältnissen, in denen wir da halt damals gelebt haben, mit, ich sage jetzt mal 1000 € Einkommen und eben in der kleinen Bude irgendwo da in Hagen, dafür zu sorgen, dass ich bestmöglich unterstützt werde. Deshalb, das ist sozusagen, da lass ich wirklich keinen dran kommen. Die hat mir da echt, ja, die hat mich da unglaublich unterstützt.
00:14:59Raul Krauthausen: Bist du heute der Lehrer oder diese Person, die deine Mutter damals für dich war? Oder bist du quasi jetzt der coole Lehrer, oder bist du der anstrengende Lehrer, der versucht sich mit Jugendsprache cringe-mäßig cool zu machen? Ich weiß die Antwort.
00:15:19Bob Blume: Ja, nee, aber ich hoffe das natürlich nicht. Also, ich hoffe das natürlich nicht. Ich lass mir ja oft auch Feedback geben, anonymes Feedback. Und ich sage denen: Schreibt mir bitte rein. Ich kann es ja nicht nachvollziehen, wer das dann ist und so, und das Feedback ist oftmals toll. Aber ich benutze ja diese Sprache trotzdem, aber meistens halt nicht, weil ich mich irgendwie anbiedern will, sondern weil das ja auch so ein bisschen so ein Internet-Ding ist. Also zum Beispiel, meine Frau, finde das tierisch cringe, wenn ich sage „cringe”, aber ich sage halt cringe. Ja, ich glaube, was anderes ist wichtiger. Zwei Sachen. Erstens, du merkst ja so ein bisschen, wenn Schülerinnen und Schüler dich ins Vertrauen ziehen. Und das ist zum Beispiel vor allen Dingen dann möglich, wenn du eben nicht so unter diesem Druck steht, den du in Fächern stehst, also zum Beispiel in Arbeitsgemeinschaften und so. Und da merke ich das natürlich schon. Und ich kriege dann manchmal auch Mails oder Briefe, Jahre später, wo mir Schüler dann davon berichten, was echt irre ist, manchmal – ich habe zum Beispiel letztens durch Zufall einen Brief gesehen von der Kursstufenschülerin, die mittlerweile Künstlerin ist und auch für den SWR 3 schon so ein Buch gemacht hat. Und jedenfalls stand da, ich gehe jetzt nicht ins Konkrete, da stand nur: Sie haben folgenden Satz zu mir gesagt, und dieser Satz hat dafür gesorgt, dass ich diese zwei Jahre Abitur schaffen konnte, weil der mich so aufgebaut und motiviert hat.
00:16:48Raul Krauthausen: Und welcher Satz?
00:16:49Bob Blume: Ja nee, das würde jetzt identifizieren, aber es war ein Satz, den ich irgendwie gesagt habe.
00:16:54Raul Krauthausen: Ach, das is ja fies!
00:16:56Bob Blume: Na ja, er hatte sozusagen damit zu tun, dass ich ihr gesagt habe, dass ich glaube – ich meine nur, das kennen Lehrerinnen und Lehrer auch, das war konkret, jetzt mache ich es ein bisschen allgemein formuliert – dass ich der Auffassung bin, dass sie unglaubliches Potenzial hat, das aber noch nicht entdeckt hat, und dass ich ihr dabei helfe, dass sozusagen… irgendwie so. Ich weiß, das hört sich pathetisch an. Aber jedenfalls ist es halt so, dass man, wenn man sowas dann liest, ist das unglaublich krass, weil man natürlich auch weiß, dass das auch andersrum passieren kann. Du sachst einen Satz im Affekt oder oder nebenbei, und eine Schülerin kriegt – ja – vielleicht Anstoß und denkt so, der mag mich nicht, der will mich nicht, der denkt, ich schaff das nicht, und so weiter. Und da merkt man dann, was für eine unglaubliche Verantwortung man hat. Als Lehrkraft selber bin ich aber leider so ein bisschen so ein Zwitterwesen, für Schülerinnen und Schüler. Ich habe das Gefühl, vielleicht ist das auch so, sozusagen, weil sich das so ein bisschen durchzieht, dass man dann darüber redet: Was ist denn der Blume für einer. Dass ich das verbessert habe, dass sie sich darauf einlassen können. Normalerweise ist das so, oder zumindest habe ich das immer so erlebt, dass es so Lehrer-Kategorien gibt. Und das ist zum Beispiel der strenge Unnahbare mit hohem Anspruch oder der lockere, kumpelhafte Nette, der die guten Noten verteilt oder so. Und bei mir, ich bin halt so ein Zwischending. Ich bin wahnsinnig locker, wenn ich das Gefühl habe, dass Schülerinnen und Schüler mich ernst nehmen und auch wissen, dass ich sie ernst nehme. Dann bin ich locker. Also ich bin locker, wenn ich sage: Passt mal auf, Leute, das müsst ihr jetzt machen, zum Beispiel eine Hausaufgabe oder eine Vertiefung oder was weiß ich. Das müsst ihr machen, und die machen das, bin ich locker. Wenn Leute aber anfangen, auch Schüler, mich zu verarschen, Bullshit zu machen, also mit Bullshit meine ich, mich anzulügen, zu sagen: Hu, ich wusste nicht, ich kann nicht, huhu. Dann werde ich wirklich böse, und ich bin auch sehr anspruchsvoll. Oder zumindest, was heißt sehr anspruchsvoll? Ich hab einfach den Anspruch, dass Schülerinnen und Schüler als Rückmeldung einen gewissen Standard bekommen, der dazu führt, dass sie wissen, und übrigens nicht mit Noten zwangsläufig, aber dass sie sich darauf verlassen können, wo sie stehen. Mit anderen Worten, ich würde mich schämen, gute Punktzahlen zu verteilen, und dann würden die Schüler an eine Uni gehen und kein Text richtig gelesen kriegen, und die denken: Ey, das kann doch nicht sein. Der Blume hat doch immer gesagt, ich bin super. Und das heißt sozusagen, bei mir ist es so ein bisschen komisch, ich bin locker, so Internet-mäßig, was die Wortwahl angeht manchmal, aber gleichzeitig möchte ich die Schülerinnen und Schüler auch möglichst unterstützen, gute Leistungen zu bringen und einen hohen Anspruch an sich selber zu erfüllen.
00:19:40Raul Krauthausen: Aber vielleicht ist genau das der Magic Mix, den man braucht.
00:19:44Bob Blume: Ja, vielleicht, aber ich glaube, was ich mal nicht machen möchte, ist zu sagen, eine Lehrkraft muss so sein wie ich jetzt. Also ich gebe dir ein Beispiel. Meine Mentorin in meiner Schule, ich habe in der Schule Referendariat gemacht, in der ich vorher Praktikum gemacht habe, und dann siehst du ja so, die Lehrkraft findest du gut, die Lehrkraft finde ich schwierig. Und dann wurde mir meine Mentorin zugewiesen, und ich dachte: Ach du Schande – Grüße gehen raus, wenn die das hört. Ich dachte erst: Ach du Schande! Warum? Die war halt das absolute Gegenteil von mir. Die war so nüchtern und eher statisch, aber das war eine gute Lehrerin. Und das heißt, ich musste mich dann mega-mäßig daran gewöhnen, dass die so unterschiedlich ist. Ich würde aber niemals sozusagen sagen, jemand ist ein schlechterer Lehrer, weil er zum Beispiel eben nicht, was weiß ich, einen Netz-Duktus hat oder so, sondern ich glaube, es gibt verschiedene Magic Mixes, wenn man so will.
00:20:43Raul Krauthausen: Beim Vorbereiten für diese Folge, ist es mir natürlich super-einfach gefallen, über das Schulsystem herzuziehen. Also einfach weil, alle haben eine Meinung zum Thema Schulsystem. Wie man es, sagen wir mal, bedauert, aus der Schule raus zu sein, habe ich manchmal das Gefühl. Oder wie Tanja Haeusler, die Mit-Erfinderin der TINCON, der Teenage Internetwork Conference oder auch der republica mal zu mir gesagt hat, dass dadurch, dass jemand sich freut, dass es die Schule gibt und alle froh sind, da raus zu sein, gibt es auch keine Lobby für gute Schule. Und ich habe überlegt, ob ich dich anmoderiere, du bist die Luisa Neubauer der guten Bildungspolitik.
00:21:25Bob Blume: Ich schmeiß mich weg!
00:21:27Raul Krauthausen: Einfach so, oder der Ricardo Lange der Pflege, da bist du quasi der Typ, der sich dafür einsetzt, dass das Bildungssystem besser wird. Warum haben wir in Deutschland eigentlich so viel unglückliche – also warum sind wir so unglücklich mit dem deutschen Schulsystem?
00:21:45Bob Blume: Ich glaube, wir sind deshalb so unglücklich mit dem deutschen Schulsystem, weil wir natürlich auch in allen Bereichen der Gesellschaft, aber vor allen Dingen hier, unterschiedliche Dynamiken haben, was die gesellschaftliche Transformation angeht. Und das ist jetzt ganz, also das ist jetzt ganz hochgegriffen. Also was meine ich damit? Die Schule, in der wir, oder das Schulsystem, das wir heutzutage haben, ist ja, wenn man so will, eine Erfindung des preußischen Verwaltungsapparates. Übrigens auch mit Ansätzen von Wilhelm von Humboldt, die wir mal wieder ausgraben müssten. Da geht es nämlich um ganzheitliche Bildung, oftmals. Nicht in dem vielleicht reformpädagogischen Sinn von Maria Montessori, also dieses mit Kopf, Herz und Hand, aber ein ganzheitlicher Ansatz, in dem es schon auch darum geht, zunächst mal basale Kompetenzen beziehungsweise Fähigkeiten und Fertigkeiten und Wissen zu lernen und sich dann zu spezialisieren. Die Sache ist eben, dass durch diese unterschiedlichen, man kann auch sagen, Geschwindigkeiten, also die Geschwindigkeit des gesellschaftlichen Wandels auf der einen Seite und die Un-Geschwindigkeit der Verwaltungsbürokratie auf der anderen Seite, entsteht eine Reibungsfläche. Eine Diskrepanz, in der sozusagen jeder bemerkt: Moment mal! Das, womit ich hier zu tun habe, in der Schule als Institution, und das, was ich alltäglich erlebe… Also bei so ganz einfachen Sachen, wie: wir hatten ja zehn Jahre Handyverbote. Also wir verbieten, frei nach Lisa Rosa, die diesen Begriff geprägt hat, das Kulturzugangs-Gerät. Verbieten wir, damit Schule sozusagen den Status als einzige Instanz der sogenannten Wissensvermittlung aufrechterhalten kann. Ja, also, das ist so ein Punkt. Es gibt unterschiedliche Geschwindigkeiten. Das andere ist, dass, glaube ich, wir auf der einen Seite erleben, dass das Gymnasium als sozusagen eine eher elitäre Form der höheren Bildung langsam Schwierigkeiten bekommt, sich zu rechtfertigen in diesem Anspruch nur bestimmte Bevölkerungsschichten abzubilden. Und das passiert ja auch schon. Also, wir haben nicht mehr 13-15 Prozent im Gymnasium, wie 1955 bis 65, sondern 43 Prozent. Aber auf der anderen Seite sind die Beharrungskräfte – „früher war alles besser.“ Früher war alles besser heißt in dem Fall beispielsweise, da ist eben nur die gutbürgerliche Mittelschicht beziehungsweise Oberschicht ins Gymnasium gekommen. Diese Beharrungskräfte sind unglaublich groß. So, das ist Nummer zwei. Und Nummer drei ist: es gibt – also, ich habe jetzt eine Podcast Folge, in einem anderen Podcast von mir. Das ist so ein bisschen der Nerd-Bildungspodcast, kann man vielleicht sagen. Da geht es noch ein bisschen mehr in die Tiefe, als bei Die Schule brennt. Da habe ich mit dem ehemaligen Staatssekretär der Berliner Senatsverwaltung Mark Rackles gesprochen.
00:24:49Raul Krauthausen: Der ja sehr bekannt ist.
00:24:50Bob Blume: Ja, der sehr bekannt ist, der übrigens jetzt auch die Initiative mit mir zusammen gemacht hat: Bildungsrat von unten. Wo wir nach diesen Empfehlungen der ständigen wissenschaftlichen Kommission, die ja mit so ein paar halbgaren Ideen vorgeschlagen hat, wie der Lehrermangel so zu beheben ist, dass man einfach die Teilzeit anhebt, die Lehrer mehr arbeiten, jetzt dann die Klassen größer macht. Aber das nebenbei. Mit dem habe ich gesprochen und gesagt: Wieso ist das denn so, dass quasi an allen Ecken und Enden die Leute sagen und wissen, dass es Veränderungen gibt, aber keiner dafür verantwortlich ist? Also, wo ist denn die Anlaufstelle? Mit anderen Worten, wo könnte ich hin, um zu sagen: So geht’s nicht weiter? Und das Problem ist genau hier, dass es gar keine Anlaufstelle gibt. Was zu völlig paradoxen Situationen führt. Zum Beispiel, dass unsere Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger ja vorgeschlagen hat, die Schülerinnen und Schüler sollten doch im Sinne von Fridays for Future, mal so Fridays for Bildung protestieren gehen. Also, unsere Bundesbildungsministerin schlägt vor, dass sozusagen die jungen Leute protestieren. Und dann fragt man sich: Wieso ist das so? Na ja, das ist so, weil die…
00:26:05Raul Krauthausen: Als ob es beim Klima was gebracht hätte!
00:26:07Bob Blume: Ja nee, aber ist ja wichtig! Der Soziologe Armin Nassehi sagt, und das fand ich eine sehr interessante Erkenntnis, übrigens natürlich auch für dich als Behinderten-Aktivist oder als Aktivist für Inklusion und so weiter, dass ein Schritt schon gegangen ist, wenn die öffentliche Wahrnehmung das Problem zumindest wahrnimmt. Ja, das ist ja, mehr kann man ja auch oft nicht machen.
00:26:31Raul Krauthausen: Aber das ist doch problematisch! Das ist doch auf der anderen Seite problematisch, die Opfer zu Verantwortlichen zu machen, dass sich nichts ändert. Weil sie nicht auf die Straße gegangen sind.
00:26:38Bob Blume: Absolut! Nein, das ist hundertprozentig, genau. Ich will nur sagen, das ist ja nicht nur problematisch, sondern das ist ja völlig widersprüchlich. So, und jetzt letzter Punkt: warum ist das so widersprüchlich? Weil der deutsche Bildungsföderalismus und die Kulturhoheit der Länder – die sich eigentlich natürlich rechtfertigen lässt aus diesem nationalsozialistischen Zentralismus, dem man versuchen wollte, entgegenzugehen – weil das eben dazu führt, dass die Verästelungen so weit gekommen sind, dass es quasi keine Verantwortlichen mehr für die verschiedenen Bereiche gibt. Deshalb haben wir sozusagen diese drei Punkte: diese unterschiedliche Beweglichkeit auf der einen Seite, dann ein System, was sich quasi selbst überholt hat, es aber nicht schafft, sich zu erneuern, und die unterschiedlichen Verantwortungsbereiche, und die führen eben zu dem Schlamassel, in dem wir gerade stecken.
00:27:34Raul Krauthausen: In den USA gibt es ja dieses komplizierte Schulsystem so nicht, aber trotzdem sehr viele Bundesstaaten, die auch sehr autark entscheiden können, wie sie Bildung gestalten wollen, wenn ich mich recht erinnere. Ist der Föderalismus wirklich das Problem?
00:27:49Bob Blume: Na ja, weißt du, ich glaube, der Föderalismus muss nicht ein Problem sein, sozusagen an sich, sondern der Föderalismus wird dann zum Problem, wenn er zu einem Föderalismus der Isolation wird. Eigentlich hat man gesagt, dass seit 2004, indem man noch eher kooperiert hat, sollte es zum sogenannten Wettbewerb der Ideen kommen. Und nun ist es jetzt ja aber so, dass Wettbewerb der Ideen zumindest in der freien Wirtschaft, egal wie man das findet, aber oftmals ja heißt, dass sich eine bestimmte Idee, die jemand hat, als Standard durchsetzt. Also, es gibt sozusagen, seitdem es die Smartphones gibt, oder seitdem es das iPhone gibt, gibt es kein Smartphone, was nicht irgendwie ein bisschen aussieht wie ein iPhone, muss man eigentlich so sagen. Also es ist ja keiner zurückgegangen, irgendwie und hat versucht, eine zweite Version vom Blackberry zu machen. Oder die, die das versucht haben, siehe Nokia, die sind halt in der Versenkung verschwunden. In Deutschland kannst du eine super Idee haben oder eine super Schule machen, und die Schule kriegt einen Schulpreis, und alle anderen Länder erfinden das entweder nochmal neu oder ignorieren das weg. Und ein solcher Bildungsföderalismus, der eben weder Kooperation ernst nimmt, noch den eigentlich festgeschriebenen Wettbewerb der Ideen, der ja dazu führen müsste, dass jemand sagt: Ey, Mensch, ihr habt – ich gebe mal ein Beispiel – ihr habt eine digitale Plattform, die funktioniert. Dann lass uns das doch jetzt mal insgesamt aufrollen, damit wir zum Beispiel… Ja, aber verstehst du, das passiert aber nicht. Und ein solcher Bildungsföderalismus ist aus meiner Sicht, hängt dann sozusagen nur noch an dieser Kulturhoheit, die dann aber sagt: Wir möchten es aber so machen, wie wir es für richtig halten. Und aus meiner Sicht verhindert man damit Entwicklung.
00:29:50Raul Krauthausen: Was die Bildungs-Misere und die Inklusions-Misere gemeinsam haben, ist, dass wir rhetorisch immer sagen, in Schweden, Norwegen, Skandinavien läuft es besser. Ist es so, oder machen wir uns da einfach auch was vor? Was machen die anders, was können wir uns abgucken oder was ist vielleicht auch dort problematisch?
00:30:10Bob Blume: Erst mal würde ich sagen, also ich bin sozusagen kein Experte für die nordischen Länder und das nordische Bildungssystem. Aber grundsätzlich ist in Deutschland eines der Hauptprobleme, dass bestimmte Standards erst mal gesetzt und dann ignoriert werden. Das ist ja bei der Inklusion zum Beispiel genauso wie bei Demokratieerziehung. Deshalb fand ich das US-Beispiel, was du gesagt hast, auch nur so halb gut. Ich war in den USA auf einer Schule, und da war der Standard wirklich bitter. Also, ich meine, weißt du, Jimmy Kimmel stellt sich in LA auf die Straße und fragt die Leute, ob sie irgendein Land kennen. Natürlich ist das nicht repräsentativ. Irgendein Land. Also ich weiß nicht, ob du das schon mal gesehen hast, da stehen wirklich Leute und hören China nicht von USA unterscheiden. Das ist natürlich nicht repräsentativ. Aber ich glaube, dass die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft auch in Bezug auf Literatur, in Bezug auf politische Einstellungen, in Bezug auf die unterschiedlichen sozialen Möglichkeiten, ich glaube, dass das nicht gerade für das amerikanische Bildungssystem spricht.
00:31:20Raul Krauthausen: Also warum ich die Amerikaner und jetzt die Skandinavier als Beispiel gebracht hatte, war, dass wir es uns auch manchmal so einfach machen zu sagen: Die Amerikaner sind eh alle nicht so schlau, oder: Die Skandinavier sind in allem besser. Und das ist ja auch für uns, sagen wir mal, die dann so im Mittelfeld sind, auch relativ einfach zu sagen: Ja, immerhin bin ich nicht so schlecht wie die Amerikaner.
00:31:42Bob Blume: Nee, das stimmt, das stimmt. Das will ich damit auch gar nicht sagen. Ich will damit nur sagen, wenn man sich orientieren würde, dann würde ich mich schon orientieren an Systemen, bei denen es ja augenscheinlich besser geht. Noch mal: da bin ich nicht so drin. Was ich allerdings weiß, ist, dass die Bildungssysteme, wo es besser funktioniert, eine Sache gemeinsam haben, zum Beispiel. Und das ist bei fast allen europäischen Ländern außer Deutschland, Österreich und ich glaube noch ein Land, was ich jetzt vergessen habe. Die selektieren nicht schon nach vier Schuljahren, beispielsweise. Jetzt ist es so, dass – jetzt darf ich es nicht verwechseln – ich glaube, es war Dänemark, aber auch viel mutigere Bildungspolitik macht, was auch kein Wunder ist, weil die natürlich deutlich weniger Einwohner haben. Aber die haben das zum Beispiel gemacht, was letztens wieder mal als Vorschlag durch Twitter gegangen ist. Die haben das einfach gemacht. Die haben gesagt: Wir lassen jetzt mal – ich weiß nicht mehr, wie viele, müsste ich googeln – wir lassen jetzt mal so und so viele Schulen, lass es 100 sein, und zwar mit Leuten, wo wir wissen, die sind engagiert und so weiter, drei Jahre lang gucken, was gute Schule macht. Was macht die aus? Wir lassen die drei Jahre unabhängig von irgendwelchen staatlichen Vorgaben. Und danach gucken wir uns an, was die gut gemacht haben, und übernehmen das. Ich glaube, das hat aber mit politischem Mut zu tun und mit der Tatsache, das dürfen wir auch nicht vergessen, dass ein historisch gewachsenes dreigliedriges Schulsystem ja auch Profiteure hat. Es schreien zwar ganz viele: Ja, wir müssen länger zusammen lernen, aber irgendwo in der Zeit war so die Überschrift, so nach dem Motto: Aber mein Marius Giselher soll aber natürlich trotzdem nicht an die Gemeinschaftsschule, sondern dann schon aber doch lieber ans Gymnasium. Und weil das so ist, ist sozusagen diese gewachsene Struktur auch so starr. Weil du im Grunde genommen als politisch Verantwortlicher, der zum Beispiel die Existenz des Gymnasiums anzweifelt, schneller abgewählt bist, als du Einheitsschule sagen kannst.
00:34:01Raul Krauthausen: Das heißt, das skandinavische Beispiel, das du gerade genannt hast, wäre wahrscheinlich eine total gute Idee, wenn wir keinen Föderalismus hätten. Weil dann würde das quasi auch gar nicht so leicht werden zu verbreiten.
00:34:13Bob Blume: Na ja, oder machen wir es mal andersrum. Wenn wir mal sozusagen konstruktiv drangehen und sagen: Was wäre denn eine Möglichkeit, in dem momentanen System gute Schule zu machen? Da würde ich sagen, es gibt ja schon Schulen, die gute Schule machen. Aber dann würde ich sagen, eine Möglichkeit wäre, dass zum Beispiel diese Verwaltungsstrukturen insofern geöffnet werden, dass sozusagen Praktikerinnen und Praktiker so eine Art Rückkanal bilden können. Und sagen: Also hier, ihr hattet eine Idee, wir geben euch jetzt Feedback, die Idee lässt sich nicht umsetzen. Wir haben eine andere Idee. Also sozusagen nach diesem Prinzip von diesem Bildungsrat. Das wäre zumindest eine Möglichkeit, auf sozusagen der unteren Ebene zu sagen: Wir gucken jetzt mal, was wir in der Situation, in der wir sind – und damit meine ich zum Beispiel: eine Kollegin von mir, die auch in dem Bildungsrat ist, die Susanne Posselt, die hat auch darüber gesprochen, dass oftmals politisch Verantwortliche einfach sehr weit weg sind von der Realität an Schulen. Gar nicht verstehen, was diese zwei Jahre Corona bedeutet haben für die Schülerinnen und Schüler, sowohl für die Sozialstruktur als auch fürs Lernen und so weiter. Und noch mal: das Problem ist dann, dass sozusagen dieser Praxis-Abgleich nicht ist. Und wenn wir den schon mal hätten und wir sozusagen nicht immer nur so ein Top-Down System haben, sondern auch in Bottom-Up, dann wird man, glaube ich, schon einiges ändern können. Letzten Endes glaube ich aber, und da bin ich nicht Politiker genug, als dass ich beurteilen kann, inwiefern das umsetzbar ist. Letztlich, glaube ich, geht nichts an so einer Art Staatsvertrag vorbei, wie Marc Racklitz ihn vorgeschlagen hat. Einen Staatsvertrag, der beispielsweise festsetzt, dass jedes Land für eine gewisse Quote von Lehrerinnen und Lehrern sich verpflichtet, und zwar jedes einzelne. Also das heißt, in Deutschland geht es nicht ohne eine gewisse gesetzliche Vorgabe, die die große Misere dann so löst, dass man quasi auch offiziellen Druck ausüben kann.
00:36:19Raul Krauthausen: Ja, wir kommen schon wirklich langsam an des Pudels Kern, weil du ja auch gerade gesagt hast, dass dieses drei- oder auch teilweise viergliedrige Schulsystem, das wir in Deutschland haben, vielleicht auch ein Teil des Problems ist. Und ich bin auch kein Bildungsrechtler, aber mir wurde mal von einem Bildungsexperten gesagt, dass nach dem deutschen Bildungssystem eigentlich die Idee ist, dass die beste Schule für dich die Schule in der Nähe ist. Also die in der Nachbarschaft. Und dass wir aber trotzdem, zum Beispiel beim Thema Talent, dann das Gymnasium haben oder beim Thema Behinderung dann die Förderschule, und dadurch dieses Konzept “Die beste Schule für dich ist die in der Nähe” torpediert wird.
00:37:01Bob Blume: Ja, das kann ich nicht beurteilen. Ich kann nur beurteilen, dass die Idee der Dreigliedrigkeit sich, wenn man sie durchliest – wie vieles, was man sich durchliest – zunächst einmal gar nicht so doof anhört. Da liest man nämlich dann so was wie: Jeder soll – das steht übrigens auch im baden-württembergischen, das steht in jedem Schulgesetz, aber beim baden-württembergischen steht explizit: Jeder soll nach Maßgabe seiner Talente, Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert werden. Und dann sagt man so: Diese Förderung, die passiert jetzt eben auf unterschiedlichen Systemen. Was damit nicht gesagt wird, ist: erstens ist das voraussetzungsfrei. Also jemand, der in die Schule kommt, aus einem Akademiker-Haushalt, und jemand, der aus dem Nichtakademiker-Haushalt kommt, ist das vergleichbar? Und es gibt immer noch natürlich so diese Hard-Core Fraktion, so eine Gymnasial-Lobby, die dann sagt: Naja, der ist halt nicht intelligent genug und fragt nicht: Was sind die Bedingungen, die vorherrschten, bevor der hier hingekommen ist. Und was können wir tun?
00:38:06Raul Krauthausen: Es wird davon ausgegangen, dass man in allen Fächern dann gleich intelligent ist.
00:38:10Bob Blume: Ja, natürlich, das kommt nochmal dazu. Und der zweite Punkt ist, dass, wenn es so wäre, dass sozusagen die verschiedenen Schulsysteme sozusagen der Exzellenz-Nachweis für eine bestimmte Fokussierung wären, also sowas wie der beste Hauptschüler, da können noch so viele Gymnasiasten kommen, der kriegt auf jeden Fall den Job als, weiß ich nicht, you name it, Handwerker in einem bestimmten Bereich. Wenn das so wäre, dann könnte man vielleicht sagen: Ahja okay, also es gibt halt Leute, die haben unterschiedliche Interessen gehabt, eher praktisch, eher in anderen Bereichen, eher theoretisch und so weiter. Das ist aber ja nicht so, sondern das Abitur wird sozusagen immer mehr zum einzigen Zertifizierungsnachweise für alles. Und damit werden alle, die in der Hauptschule beispielsweise sind, sogar dann abgehängt, wenn sie einen Hauptschulabschluss bekommen. Deshalb ist ja aus meiner Sicht auch, und das ist völlig utopisch, aber aus meiner Sicht müssten wir Schule insofern umgestalten, als dass wir sagen, wir müssen es schaffen, voraussetzungsfreies Lernen und voraussetzungsfreie Bildung zu ermöglichen. Und zwar indem Schülerinnen und Schüler natürlich die Möglichkeit haben, Schwerpunkte zu setzen, individuell zu arbeiten. Aber vor allen Dingen, indem sie neun oder zehn Jahre zusammenarbeiten, wie das in ganz vielen europäischen Ländern schon der Fall ist, und ab dann sagen: So, und jetzt kann ich mir überlegen, möchte ich eher in den praktischen Bereich gehen, möchte ich eher dual arbeiten oder möchte ich wissenschaftspropädeutisch arbeiten, sodass ich hinterher studiere.
00:39:59Raul Krauthausen: Und jetzt noch kurz eine Werbung in eigener Sache. Am 14. März ist mein neues Buch erschienen: Wer Inklusion will findet einen Weg, wer sie nicht will findet Ausreden, ist der Titel. Für das Buch habe ich mit Expert*innen und Selbstvertreter*innen über die Frage gesprochen, wie Inklusion von einer schönen Idee zur gelebten Normalität werden kann. Herausgekommen ist ein Buch, das alle “Aber”-Sager entlarvt und auch jede Menge Argumente an die Hand gibt, warum Inklusion ein Thema ist, was ausnahmslos jede und jeden betrifft. Wer Inklusion will findet einen Weg, wer sie nicht will findet Ausreden, ist jetzt überall im Handel. Aber jetzt wieder zurück zum Podcast.
Also ich glaube, was ja ein Teil des Bildungsproblem in Deutschland ist, dass wir Kinder auch physisch voneinander trennen. Also räumlich, die sitzen in anderen Gebäuden. Und es ist ja völlig okay, wenn ein Kind talentierter ist als ein anderes Kind. Aber das quasi zu einer räumlichen Trennung zu machen, bestätigt ja dann auch das System und verhindert auch die Durchlässigkeit. Und in dieser ganzen Inklusionsthematik, in der ich ja dann unterwegs bin, da wird immer gesagt: Ja, aber es kann ja auch nicht jeder irgendwie Nobelpreisträger der Literatur werden. Dann denke ich so: Ja okay, es kann ja sein, dass jemand der sprachlich so begabt ist besondere Unterstützung braucht oder vielleicht einen Leistungskurs-Sitz oder so. Aber das rechtfertigt ja dann höchstens eine zeitliche Trennung, aber nicht noch räumliche Trennung. Also dass man sagt: Im Deutschunterricht wird leistungsdifferenziert, oder im Mathe oder was auch immer, aber nicht zwangsläufig in Sport oder Bio.
00:41:42Bob Blume: Ja, und vor allen Dingen, du hast ja gerade schon gesagt: Muss denn jeder in allem gleich gut sein? Und die Antwort ist ja nicht nur “nein”, sondern die Antwort ist: Nein, und weil das so ist, ergeben sich ja auch Folgeprobleme. Also zum Beispiel die Abi-Note als Indikator dafür, ob jemand studieren kann oder nicht, führt ja beispielsweise dazu, dass dann jemand zum Beispiel überhaupt erst einen Studienplatz kriegt, weil er eine Abi-Note hat, weil er halt aus einem anderen Land kommt. Das zweite, was du gesagt hast, finde ich aber zentral, weil das aus meiner Sicht die Frage berührt, was wir eigentlich von schulischer Bildung erwarten. Erwarten wir – und ich würde behaupten, dass das heutzutage oft noch so ist – erwarten wir, dass ein von diversen Wissenschaftlern, die Bildungspläne gemacht haben, ohne natürlich untereinander abzusprechen, ob der eine mit dem anderen in Konkurrenz geht, Bildungsplan-technisch. Erwarten wir, dass sozusagen jeder Schüler ein Potpourri, ein Panorama von Dingen lernt, akkumuliert und das dann sozusagen Bildung ist? Oder, und das wäre sozusagen mein Take, sollte Bildung nicht vielmehr erstens ermöglichen, vertieftes Verständnis zu erzeugen. Also vertieftes Verständnis, dass das dazu führt, dass man beurteilen kann, ob zum Beispiel Nachrichten, Informationen, ob die verlässlich sind. Schwerpunkte suchen, zu verstehen, wie man eine Frage stellt, du musst ja noch nicht mal beantworten, aber zunächst mal eine Frage stellt. Und vor allen Dingen in einer Art und Weise miteinander zu partizipieren und miteinander zu lernen, die dazu führt, dass man am Ende der Schulzeit weiß, “normal” gibt es nicht. Es gibt unterschiedliche Menschen, es gibt unterschiedliche Begabungen, aber jeder kann in seiner Art und Weise selbstwirksam sein. Selbstwirksam. Und ich habe das Gefühl, dass wir momentan eine Schule haben, die dazu führt, dass – natürlich, es gibt Multitalente, die machen das alles, und die schaffen dann auch noch mehr, und die schaffen vielleicht auch Vertieftes. Aber wir haben ganz viele Schülerinnen und Schüler, die kommen aus der Schule raus und sind nicht nur orientierungslos, sondern fühlen sich auch ohnmächtig. Und das darf nicht sein. Weil das kratzt sozusagen am Fundament dessen, was uns als demokratische Gesellschaft ausmacht, nämlich das Gefühl zu haben, meine Stimme zählt hier etwas. Und da müssen wir hin, aus meiner Sicht. Wir müssen zu einer Schule, die Schülerinnen und Schülern Selbstwirksamkeit und Gemeinschaftlichkeit – beibringt, ist auch das falsche Wort – die das initiiert. Und die Schülerinnen und Schüler ernst nimmt und in der Schülerinnen und Schüler sich nicht wie, ich sag jetzt mal: Befehlsempfänger von teilweise überkommenen Standardpunkten zeigt, die man akkumuliert und direkt nach der Schulzeit wieder vergisst.
00:44:49Raul Krauthausen: In der UN-Behindertenrechtskonvention, wenn man sie auf Deutschland umlegt oder anwendet, steht drin, dass eine Schule für alle die Lösungen eigentlich sein sollte. Also dass es quasi keine Förderschulen mehr gibt und keine Sonderschulen. Und das geht so weit, dass man auch die Interpretation daraus ableiten kann, dass ein Gymnasium auch eine Förderschule ist. Und zwar eine Förderschule für Talentierte. Und warum behandeln wir quasi die Förderschulkinder eines Gymnasiums besser als die Förderschulkinder einer Förderschule im klassischen Sinne, wie wir sie kennen, für Kinder mit Behinderung zum Beispiel?
00:45:29Bob Blume: Weil das unausgesprochene Bildungsverständnis immer noch ist, dass Bildung dafür sorgen soll, wirtschaftliche Humanressourcen zu bekommen, nicht eine Gesellschaft, in der die Menschen gut miteinander leben können.
00:45:50
Raul Krauthausen: Und was sagst du Leuten, die sagen: die Inklusion ist eine Utopie?
00:45:55
Bob Blume: Das Problem ist, momentan haben die ja Recht. Also es ist insofern eine Utopie als dass es – weiß jetzt nicht, lass mich nicht lügen – ich glaube, 2012 hat jemand gesagt, Inklusion ist gescheitert. Weil sozusagen, wie du es gerade gesagt hast, diese festgeschriebene Zielsetzung einfach nicht umgesetzt wurde. Also weiß nicht, was sage ich Leute, die sagen: Das ist eine Utopie. Mir sagen dauernd Leute, irgendwas von dem, was ich äußere, ist eine Utopie. Dann sage ich: Ja, das kann sein, dass das eine Utopie ist. Aber Utopie kommt ja vom schönen Platz, vom schönen Ort, aus dem Griechischen. Das ist eben das, wo wir uns daran orientieren sollen, und ich werde halt nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das auch geschehen muss.
00:46:36Raul Krauthausen: Und was sagst du Lehrer*innen, die sagen: Für behinderte Kinder bin ich nicht ausgebildet, deswegen mache ich es nicht.
00:46:42Bob Blume: Ja, weißt du, das ist sozusagen genau das Ding. Ich weiß nicht, ich habe das jetzt noch nicht gesagt, ich bin ja auch schon gescheitert in Bezug darauf. Also, was heißt darauf? Ich hatte einen Schüler mal, der war Autist oder der hatte eine autistische – wie nennt man das denn, also der hat Autismus?
00:47:04
Raul Krauthausen: Er war Autist. Oder “ist” wahrscheinlich noch.
00:47:06
Bob Blume: Er war Autist. Und das hat dazu geführt, der konnte mitmachen und so weiter, aber immer, wenn wir die Klassenarbeiten geschrieben haben – also und der hatte sogar eine Schulbegleiterin, und ich habe mir auch Mühe gegeben, das war für mich ein bisschen schwierig, weil ich bin so ironisch, und der hat Ironie als solche nicht erkannt, und da musste ich mich umstellen. Aber das ging. Aber dann kam sozusagen am Ende immer diese Klassenarbeit, und bei der Klassenarbeit hat er das auch in der Zeit, in denen die Schülerinnen und Schüler das geschrieben haben, nicht geschafft, über eine Einleitung hinwegzukommen. Und die Mutter hat mir dann auch gesagt, und ich verstehe sie, so: Können sie das nicht wenigstens wertschätzen? Und ich habe dann aber gedacht, wie soll ich das wertschätzen, in einem System, das sozusagen darauf ausgelegt ist, dass man in derselben Geschwindigkeit den gleichen Standard erhält? Ja also, ich habe das damals für mich nicht verstanden. Auf der anderen Seite ist dieses, was du gerade gesagt hast, was sage ich jemand, der sagt, er ist nicht für Inklusion ausgebildet. Ich habe das ja auch in anderen Bereichen. Leute, die sagen: Ja, Digitalisierung kann ich halt nicht. Da muss man schon halt soweit gehen und sagen, wer nicht will findet Gründe, wer will findet Wege. Nur, ich finde es auch schwierig, weil das oft passiert, dass man bestimmte Defizite, die an allen Ecken und Enden sind, und du zeigst das ja auch auf, bei der Inklusion beispielsweise – dass man sozusagen den Lehrkräften individuell die Verantwortung gibt. Weil, um Dinge umzusetzen, die auch gesetzlich festgelegt sind, ist aus meiner Sicht schon auch nötig, dass es eine Rahmengebung gibt. Also das heißt, dass man Lehrkräfte unterstützt darin, sich zum Beispiel weiterzubilden, zum Beispiel einen Unterricht zu machen, der nicht eben einfach von Prüfung zu Prüfung geht, und so weiter. Also mit anderen Worten, ich würde mit solchen Lehrkräften sprechen, wie ich das auch im Bereich Digitalisierung mache, und sage: Jetzt lass uns mal gucken, wie das möglich ist und wie das geht. Aber letzten Endes ist das ein systemisches Problem. Wenn man die Ansprüche an sich selber, an das System ernst nimmt, dann müsste sich auch innerhalb des Systems was verändern.
00:49:24Raul Krauthausen: Was sagst du den Leuten? Also, ich frag dich jetzt einfach ab, weil ich höre ja ständig diese Floskel. Aber was sagst du Leuten, dass die Kinder immer problematischer werden? Ist das so? Also ich habe da Zweifel.
00:49:37Bob Blume: Nein, das ist nicht so, aber natürlich leben wir hier auch in ganz unterschiedlichen Schul-Welten. Also zum Beispiel, ich wohne sozusagen in, wie nennt man das, Wolkenkuckucksheim? Die Kinder und Jugendlichen, die bei mir auf der Schule sind, die sind nicht nur nicht-problematisch, das ist ganz toll. Also, natürlich sind die unterschiedlich, das sind unterschiedliche Kinder, und Kinder sind Kinder und so. Ich glaube nicht, dass die immer problematischer werden. Aber ich glaube, was eben da eine Rolle spielt, ist diese Diskrepanz zwischen den Lebensrealitäten, und auch das ist ja nicht unbedingt was Neues. Also Stichwort Generationenkonflikt. Was ich eher problematisch finde, ist, wenn sich Lehrkräfte dann da so rausziehen, weil das ist ja sozusagen die billigste Form der Aussage: Die Kinder werden problematisch. Damit geht man aus seiner eigenen Verantwortung raus. In die Verantwortung rein geht, wenn man sagt: Okay, was ist genau das Problem? Und versucht zu analysieren, wie es zu diesem Problem kommt. Und wenn jetzt jemand, ich gebe mal nur ein Beispiel, wenn irgendein Oberstudiendirektor seit 40 Jahren am Gymnasium ist. Und quasi erlebt hat, dass vor 40 Jahren eben ein bestimmtes Klientel an die Schule gekommen ist, die schon eine bestimmte Haltung von ihren Eltern mitbekommen haben, die von ihren Eltern in sechs Jahren 150.000 Seiten vorgelesen bekommen haben und so weiter und so fort. Dann mag der das so empfinden, dass junge Leute in Anführungsstrichen schwieriger geworden sind. Was sich aber eigentlich zeigt, ist, dass eben das Ganze schon auch offener zunächst mal geworden ist und dass die Zeiten sich ändern und dass man als Lehrkraft eben nicht mehr, wie vor 20, 30 Jahren, das einzige Medium im Raum ist. Und quasi darauf zurückfallen kann, was man halt einmal gemacht hat, und das vermittelt jetzt weiter. Sondern dass man weiter Lerner bleiben muss und aus meiner Sicht auch wissen muss, was sozusagen im Digitalen so los ist und abgeht. Eben um zu verstehen, was ist denn euer Problem? Warum macht ihr das? Warum sprengt ihr Toiletten? Warum wisst ihr Dinge? Warum wisst ihr andere Dinge nicht? Ja also, ich würde sogar soweit gehen, dass wenn man junge Leute danach fragt, was sie so machen und was sie so wissen, dann wissen die teilweise unglaublich viel mehr. Nur halt oftmals in Bereichen, die nicht zwangsläufig in der Schule abgefragt werden.
00:52:14Raul Krauthausen: Ja, genau. Und was hast du jetzt aus deiner Berufserfahrung, quasi nachdem du das autistische Kind in der Klasse hattest, gelernt? Was du vielleicht anders gemacht hättest?
00:52:26Bob Blume: Also, ich glaube, ich würde mehr nach dem Freiraum gucken, den ich habe. In Bezug auf sowohl die Art und Weise des Unterrichtens als auch auf die Art und Weise der Bewertung. Weil oftmals hat man da andere Möglichkeiten. Das bedeutet leider Gottes oft, dass man sich quasi über die verschiedenen Instanzen hoch-telefonieren muss. Aber ich glaube, ich würde jetzt mittlerweile halt nicht sagen: Ja Shit, jetzt ist es nur eine Einleitung, und eine Einleitung ist halt im Vergleich zu einer ganzen Klausur nicht ausreichend. Sondern ich würde, glaube ich, eher noch mehr reingehen und sagen: Hier ist die Rückmeldung, wie die Einleitung geworden ist. Und dann fragen: Wie kann ich das jetzt abbilden?
00:53:17Raul Krauthausen: Brauchen Lehrer*innen und Schulen vielleicht mehr Beinfreiheit, was Entscheidungen angeht, die in ihrem Gebäude stattfinden?
00:53:25Bob Blume: Ja, auf alle Fälle, klar! Also ich erinnere mich daran, das habe ich auch in meinem Buch damals aufgeschrieben, das war, glaube ich ein Solinger Schulleiter, der damals versucht hat die Corona-Situation anzugehen mit Hybrid-Unterricht, als sozusagen Hybrid-Unterricht noch gar nicht Konzept war. Da wurde er mehr oder weniger auch zurückgepfiffen. Und das hört man auch immer mal wieder, dass Leute zurückgepfiffen werden. Und genau das ist das, was ich meine. Aber diese Beinfreiheit, die kriegt man ja nur, wenn sozusagen die höheren Ebenen sich dafür interessieren, was sozusagen die Realität ist. Wie sieht es gerade konkret aus? Deshalb, ich habe es schon mal gesagt, aber ich will noch mal auf die Idee zurückkommen. Ich fände das geil, wenn – das wird nicht passieren – aber wenn ein Kultusministerium aus einem Land sagen würde: Passt mal auf, es können sich jetzt 250 Schulen bewerben. Die müssen sich bewerben, damit klar ist: Okay, wir wollen das alle. Die sind engagiert. Und ihr fallt jetzt drei Jahre nicht mehr unter die Schulaufsicht, wenn man so möchte, sondern ihr macht Sachen, ihr evaluiert die und ihr sagt hinter, wie es gelaufen ist. Und von den 50, wo es richtig geil gelaufen ist, das nehmen wir dann als Modell, natürlich immer angepasst, für die anderen Schulen des Landes und sorgen dafür, dass wir sozusagen das System von unten auf verändern.
00:54:56Raul Krauthausen: Ich habe vor ein paar Jahren mal den Kinofilm Die Kinder der Utopie begleitet. Und der Film handelt von sechs Kindern, die begleitet wurden in ihrer Schulzeit und dann nochmal zwölf Jahre später nach der Schule. Was mich so beeindruckt hatte, eigentlich sind es zwei Filme, der erste Film heißt Klassenleben, da wird eine Grundschulklasse in der Fläming Grundschule gezeigt mit Kindern mit und ohne Behinderung, die gemeinsam Unterricht haben. Und dann quasi zwölf Jahre später, werden die Kinder noch mal gezeigt. Was wurde eigentlich aus denen.
00:55:30Bob Blume: Das war deine Schule auch, die Fläming Schule.
00:55:33Raul Krauthausen: Genau, das war auch meine Schule – zufällig. Und was mich so berührt hat, war, dass man in dem ersten Film Klassenleben wirklich Kinder mit schweren Behinderungen sieht, die aber alle zusammen gelernt haben. Und man als Zuschauer*in dann vielleicht manchmal denkt: Ach Gott, das ist ja schwer. Ach Gott, wie soll das denn jemals alleine leben können? Und dann schaust du zwölf Jahre später den Film, Die Kinder der Utopie, und siehst, wie ein Mädchen, das eigentlich als blind eingestuft wurde, dann plötzlich in der U-Bahn alleine sitzt und Whatsapp schreibt auf dem Weg zur Arbeit. Und ich habe mich selber dabei erwischt, dass ich Kindern einfach weniger zugetraut habe oder dass ich dachte: Das wird nix. Und dann habe ich mich gefragt: Wie gut sind wir eigentlich als Erwachsene, egal ob Eltern oder Kinder, die Bildungschancen oder Entwicklungschancen von Kindern einzuschätzen?
00:56:27Bob Blume: Auf jeden Fall nicht gut genug, um so eine Prognose zu stellen. Also, das ist doch ganz klar. Das ist ja sozusagen einer der Hauptpunkte, weshalb diese Selektion, jetzt unabhängig von Behinderung, nach vier Jahren so schwierig ist. Vor allen Dingen weil, also ich kenne das zum Beispiel, ich glaube, als Lehrkraft muss du immer notorischer Idealist sein. Es geht gar nicht anders. Auch als Selbsterhalt, sonst machst du dich ja kaputt. Aber ich erlebe das sehr häufig. Ich muss gerade an eine Schülerin denken und grinsen, eine Schülerin, die war auch wirklich faul. Aber in der siebten, achten, neunten Klasse, ist sie so abgekackt, und ich habe immer gesagt, ich erfinde jetzt irgendeinen Namen: Maria, das kann doch nicht sein. Hier du kannst doch eigentlich… und so weiter und so fort. Und die ist dann in der zehnten Klasse, hat die sich am Riemen gerissen und macht das durch und lernt und steht auch gerade wie eine Eins. Früher hatte die so ein bisschen eingefallene Schultern und so weiter. Und wenn man die jetzt in einer siebten oder achten oder neunten Klasse, wenn man gesagt hätte: Das wird nix. So, wir schicken dich jetzt, was weiß ich wohin, halt eine andere Schulform oder: Hier, vergiss es gleich und so. Dann hätte die ein anderes Leben gehabt. Übrigens ist das auch durch Studien belegt, dass wenn es jetzt rein ums Lernen geht und nicht um dieses Miteinander, was uns ja auch umtreibt. Wenn es rein ums Lernen geht, also um den kognitiven Wissenszuwachs, dann ist nachgewiesen, dass junge Leute in unterschiedlichen Schulformen auch unterschiedlich viel lernen, egal ob sie davor quasi dasselbe Potenzial haben. Also mit anderen Worten, die Leute, die um dich herum sind, die haben unheimlich viel damit zu tun, wie du dich auch selbst entwickelst, was ja auch wieder für so eine Form spricht.
00:58:31Raul Krauthausen: Das heißt, der Abstand vergrößert sich, je länger du quasi in den unteren Bildungssystemen bist.
00:58:38Bob Blume: Weshalb übrigens ja auch diese Durchlässigkeit im Grunde genommen nicht stimmt. Es wird immer gesagt, das Bildungssystem ist durchlässig, aber diese Durchlässigkeit ist eben eigentlich nur von oben nach unten. Also mit anderen Worten, ich würde sagen, wir sind nicht gut in der Prognose. Und weil wir nicht gut sind in der Prognose, sollten wir kein System haben, was sich genau auf so eine Prognose stützt.
00:58:59Raul Krauthausen: Ich war mal auf einer Veranstaltung in – Gott, ich glaube, das war in Nürnberg – und da kam jemand, der nannte sich Inklusions-Kritiker. Und dann dachte ich: Okay, da bereite ich mich jetzt mal darauf vor und hörte mir den Vortrag von ihm an. Und er war gar kein Inklusions-Kritiker im Sinne von, dass er gesagt hat, die Inklusion ist gescheitert, sondern der hat gesagt, die Inklusion, wie wir sie machen, bedeutet eigentlich nur, dass wir nur die Kinder inkludieren, die später verwertbar sind. Und die Verwertbarkeit im kapitalistischen Sinne wird unter anderem definiert durch eine Organisation, die sich OECD nennt. Wo quasi dann europaweit Standards versucht werden zu entwickeln, um Schulen, Kinder, Abschlüsse miteinander vergleichbar zu machen, Stichwort Pisa, Stichwort Bachelor/Master, dass dann eben europaweit, vielleicht sogar auch irgendwann weltweit funktioniert. Und dass das Problem ist, dass diese OECD demokratisch nicht legitimiert ist, weil es eine 100 Prozent private Organisation ist. Dahinter stecken dann Stiftungen wie Bertelsmann & Co., die dann zufällig auch Lehrbücher produzieren und so weiter und so fort. Und wir glauben aber, das ist irgendwie wissenschaftlich, demokratisch total cool. Aber in Wirklichkeit ist das eigentlich eine reine Kapitalismus-Maschine. Würdest du dem so zustimmen?
01:00:16Bob Blume: Na ja, also sozusagen, was jetzt die Institutionen-Kritik angeht, bin ich nicht so in der Materie, da glaube ich dir einfach. Aber der Punkt, den du gerade gesagt hast, war ja was, wo wir schon auch darauf zu sprechen gekommen waren. Du hast gerade von Verwertbarkeit gesprochen. Ich hatte über Humankapital gesprochen. Letzten Endes das, was beispielsweise der Soziologe Aladin El-Mafaalani in seinem Mythos Bildung, wo er den Bildungsbegriff so ein bisschen auseinander klamüsert, auch sagt. Dass sozusagen, sobald man Bildung – es gibt ja unterschiedlichste Ansätze darin, was Bildung sein soll – ja, Bildung sozusagen für persönliche Entfaltungsmöglichkeiten, für gesellschaftliche Teilhabe und eben Bildung als zertifizierte Zugangsberechtigung für den Arbeitsmarkt. Und genau das ist ja sozusagen mein Punkt. Wenn man Bildung darauf verkürzt, landet man bei dem einzigen Kriterium, das sozusagen schulische Bildung quasi noch legitimierbar macht. Weil alles andere kannst du dir aneignen, wenn du in der Lage bist und die Zeit hast. Das sieht man ja auch. Also das heißt mit anderen Worten: wenn Schule ein Ort ist, wo die einzige Kategorie implizit die der Verwertbarkeit ist, dann landen wir bei dem Problem, was wir haben. Und ich würde sagen, diese anderen Dimensionen von Bildung, zum Beispiel die Frage des Lernens, des gemeinsamen Lernens, des vertieften Lernen, des Lernens, das einen im besten Fall nicht das Lernen selbst abgewöhnt, sondern dazu führt, dass man nach der Schule noch weiter Bock hat. Die müssen in den Fokus. Und das ist sozusagen, das wäre meine Mission. Inwiefern, was du gerade gesagt hast, das ist natürlich spannend, weil du hast so in einem Nebensatz gesagt, ja, die machen auch Lehrmaterialien. Das ist natürlich das große Problem. Wenn sozusagen bestimmte Vorstellungen davon, was Bildung ist und zu sein hat, institutional zusätzlich zementiert werden, wird es natürlich immer schwieriger, das auch aufzubrechen und immer darauf hinzuweisen und zu sagen: Hallo Leute, natürlich ist es wichtig, dass sozusagen talentierte Menschen einen Job bekommen, der Innovation fördert und so weiter, aber das kann nicht unser einziges Kriterium an Bildung sein.
01:02:37Raul Krauthausen: Spannend! Du hast vorhin schon zweimal die Corona-Pandemie angesprochen, die ja wahrscheinlich großen Einfluss auch auf unser Bildungssystem hatte. Jetzt ist sie in Anführungsstrichen vorbei, die Pandemie. Und ich habe in den ersten Monaten, als die Lockdowns auch in den Schulen galten, sehr viele besorgte Politiker*innen in den Medien gehört, die dann gesagt haben: Ach, die Kinder gehen alle zu Hause kaputt. Und das ist so wichtig, dass sie ihre Freund*innen treffen. Und – sorry – aber ich habe das denen nicht geglaubt, den Politiker*innen, dass das wirklich deren Sorge ist. Weil dann habe ich einen Podcast gehört von einem Schul-Psychologen, der sagt: Ja, wir machen wir uns jetzt Sorgen, dass die Kinder zu Hause kaputt gehen. Aber wir machen uns nie Sorgen, wie Kinder in der Schule eigentlich kaputt gehen. Und dass das eigentlich deswegen total unehrlich ist, so zu tun, als würde einem das etwas bedeuten, als Politiker. Und dass er die These aufstellt, fand ich super interessant, dass es den Politiker*innen eigentlich darum geht, dass die Eltern wieder zur Arbeit gehen können und nicht Homeschooling machen müssen. Wieder Thema Kapitalismus. Also Hauptsache die Maschine läuft weiter. Und die Kinder sind quasi die, die am meisten darunter leiden. Und natürlich leiden sie zuhause, wenn sie ihre Freunde nicht treffen. Aber wenn es uns wichtig ist, dass Kinder nicht leiden, dann müssen wir auch in die Schule gucken.
01:03:56Bob Blume: Ja, ich fand die beste Zusammenfassung dieser Unehrlichkeit, Widersprüchlichkeit, Scheinheiligkeit, wie auch immer man das nennt, waren die Sätze, die verschiedenste Politiker*innen geäußert haben, als es um die Schulöffnung ging. Die haben nämlich gesagt: Die Schulen müssen wieder öffnen, weil die Kinder uns so wichtig sind. Und jeder, der jetzt im Deutsch-Unterricht so ein bisschen aufgepasst hat, der weiß, dass dieser Satz sich so anhört, als wenn dieses “Weil die Kinder uns so wichtig sind” eine Begründung ist. In Wirklichkeit ist das aber eine Behauptung, der noch eine Begründung folgen müsste. Die Behauptung: Kinder sind uns so wichtig, der müsste ja sozusagen folgen: Und deshalb tun wir folgendes. Da kam aber nie was. Es blieb bei der Behauptung, die Schulen öffnen, weil die Kinder sind so wichtig, und das war die billigste Aussage, die man hätte tätigen sollen. Die damalige Baden-Würtembergische Kultusministerin, Frau Eisenmann, hat auch noch eine interessante Sache gesagt, die auch mal wieder so, ich sage mal, den Unterschied zwischen Kausalität und Korrelation nochmal ganz deutlich macht. Die hat nämlich zum Beispiel gesagt: Weil wir in der Corona-Pandemie bemerkt haben, dass Schülerinnen und Schüler nicht autonom sind – Klammer auf: Das stimmt übrigens auch nicht für alle Schülerinnen und Schüler. Es gibt viele, die haben richtig viel gelernt, und in Baden-Württemberg gab es beispielsweise eine Studie, die gezeigt hat, dass die Lese- und Schreibkompetenz nach oben gegangen ist in der Corona Pandemie – Klammer zu. Also, sie hat gesagt: Weil wir gemerkt haben, dass Schülerinnen und Schüler nicht autonom genug sind, müssen die Schülerinnen und Schüler jetzt sozusagen schnellstens wieder in die Schule. Man hätte ja auch sagen können: Weil wir gemerkt haben, dass die Schülerinnen und Schüler nicht autonom genug sind, müssen wir die Autonomie der Schülerinnen und Schüler stärken, und das können wir am besten in der Schule machen. Aber das war auch sozusagen, das war überhaupt keine Frage. Also mit anderen Worten: wahnsinnig viele Schülerinnen und Schüler haben in dieser Corona-Pandemie – ich habe da auch ganz viel mit denen darüber gesprochen – plötzlich etwas getan, was sie in Schulen nicht machen könnten, nämlich eigene Schwerpunkte zu setzen, die Zeit so einteilen, wie sie es für ihr Lernen richtig fanden. Aber machen wir uns nichts vor, auch das, und das ist gerade eine Vokabel, die ich sehr häufig benutze, ist halt eben nicht voraussetzungsfrei. Also an unserem allgemeinbildenden Gymnasium war das zum Beispiel so. Das hat gut geklappt. Immer mal wieder gab es einen Schüler, der war nicht auffindbar, in Anführungsstrichen. Ich habe aber mit anderen Kollegen gesprochen, ich hatte so eine kleine Diskussionsrunde, wo ich mich einmal im Monat getroffen habe. Da war zum Beispiel eine Lehrkraft aus der Werk-Realschule, wo ja oftmals eben Schülerinnen und Schüler hinkommen, deren Eltern dann zum Beispiel auch nicht einfach zu Hause bleiben konnten. Die mussten halt in den Dienstleistungs-Berufen, in den sogenannten systemrelevanten Berufen arbeiten. Und da war es so, da haben sie einfach Schülerinnen und Schüler auch verloren, und das ist natürlich gravierend. Nur, da hätte man sich aus meiner Sicht politisch mal fragen müssen, was das denn bedeutet für die Zeit, in der die Schülerinnen und Schüler dann wieder in die Schule gehen.
01:07:16Raul Krauthausen: Ja, krass! Gibt es denn etwas Positives, was du aus der Corona-Pandemie mitnehmen kannst, was vielleicht strukturell was verändert oder vielleicht verbessert hat?
01:07:24Bob Blume: Ja, das Krasse an der ganzen Geschichte ist ja, dass plötzlich Dinge gemacht wurden, von denen man nie gedacht hätte, dass sie gemacht werden können. Also Zoom, klar. Ich habe Sechst-Klässlern in Chats Aufgaben verteilen lassen, die haben auf Everpads, also auf kollaborativ zu bearbeitenden Dokumenten zusammengearbeitet. Die haben verschiedenste digitale Leinwände gemacht. Ich hatte in Englisch, habe ich dann manchmal so Lernpfade gemacht, die man bearbeiten konnte, die dann kommentiert wurden, man konnte sich gegenseitig kommentieren. Das war total geil. Also, was habe ich gesehen? Ich habe gesehen, was möglich ist, wenn es nicht anders geht. Das Problem war nur, dass von Vielen, also logischerweise auch, weil das natürlich auch eine schwierige Zeit für Viele war, aber der erste Take, den ich dann so oft aus dem gehört habe, was man wahrscheinlich so konservativ nennen kann, war: Gott sei Dank ist jetzt alles wieder normal. Und ich dachte so: Nee, erstens ist nicht alles wieder normal, und zweitens war es auch vorher schon nicht normal. Also, was ich bemerkt habe, ist, man könnte Dinge ändern oder Dinge ändern sich auch, aber dafür muss halt eine weltweite Pandemie geschehen.
01:08:45Raul Krauthausen: Was unfassbar, unfassbar gruselig ist, dass erst dann sich etwas verändert und jetzt auch wieder alles zurückgedreht wird, was vielleicht sogar mal eine Verbesserung hätte sein können. Du hast mal die Meinung vertreten, beziehungsweise unterstützt, zu sagen, dass wir eigentlich so eine Art Soziales Jahr wieder brauchen, ein verpflichtendes Soziales Jahr. Auch vielleicht, um den Lehrermangel ein bisschen zu kompensieren. Sagen wir mal, nicht zu kompensieren, aber vielleicht so ein bisschen zu entspannen. Und das sagt ja der Bundespräsident auch, dass es wichtig ist, dass wir irgendwie wieder mehr soziales Engagement machen, und so. Und dann denke ich so: Warum immer die jungen Leute? Also, wie wäre es denn, wenn Franz weiter jetzt mal ein Ehrenamt macht? Wann hat er denn eigentlich zuletzt sich ehrenamtlich betätigt, und warum müssen es immer die Leute sein, die gerade aus der Schule raus sind? Könnte man es nicht auch mal ab 60 einführen?
01:09:41Bob Blume: Ja, pass auf. Als ich das geschrieben habe, die Kolumne für das verpflichtende soziale Jahr, das war sogar noch vor Walter Steinmeier. Der hat wahrscheinlich von mir abgeschrieben. Nein, Quatsch, der hat nicht von mir abgeschrieben, aber der Take war ein anderer. Und zwar ging es mir, auch wenn ich solidarisches Handeln von egal welcher gesellschaftlichen Schicht absolut wichtig finde, ging es mir da nicht drum. Mir ging es nicht darum zu sagen, dass die jungen Leute sozusagen, die jetzt zwölf Jahre Schule gemacht haben oder zehn Jahre, gefälligst nochmal einen Dienst an der Gesellschaft machen. Sondern wo es mir darum ging, ist, dass ich glaube, dass eine Zeit des Innehaltens, eine Zeit der praktischen Erfahrung, eine Zeit der Orientierung und eine Zeit, in der man andere Menschen aus anderen Kontexten kennenlernt, für eine Orientierung des Einzelnen wichtig ist. Weil ich bemerke, dass es ganz viele junge Leute gibt, die sagen: Ey, es gibt 16.000 Studiengänge, das ist mir sowieso zu viel. Also studiere ich irgendwas, was in der Nähe ist. Und da bin ich jetzt ein bisschen drastisch, und die eigene Lebensgeschichte, die erhöht man dann ja immer selbst. Aber ich sage zu denen immer: Bitte – Bühl ist in der Nähe von Karlsruhe – bitte mach nur eine Sache nicht, geh nicht nach Karlsruhe direkt und bleib bei deinen Eltern wohnen. Geh weg, mach was anderes. Lerne die Welt kennen. Und dieses soziale Pflichtjahr, weshalb ich da so hinterher war, zu sagen, hat für mich null damit zu tun, irgendwelche Löcher zu stopfen, oder zu sagen sagen: So, ihr kleinen Schmarotzer, und jetzt macht da noch mal was für die Gesellschaft. Sondern wäre für mich deshalb sinnvoll, weil ich glaube, dass es eine Großzahl von Menschen, junge Menschen gibt, die damit zu einem gewissen Glück gezwungen würden. Zu dem Glück nämlich, sich mal so ein bisschen frei zu machen von diesem Druck des Lernens. Von diesem: Ich muss jetzt hier noch was machen, ich muss noch da was machen. Sondern nochmal unterschiedliche Kontexte kennenlernen. Ich mache das manchmal so ein bisschen plakativ, indem ich sage: Du weißt doch nicht, es gibt so viele Jobs und Sachen, von denen hat man noch nie gehört. Und wenn du zum Beispiel jetzt mal irgend einen Opa pflegst, und der sagt: Übrigens, ich bin hier in der, ich weiß es doch auch nicht, Segelmotor-Industrie, da habe ich ein super Ding… Leute kennenlernen. Dafür fände ich das wichtig. Allerdings, ich glaube schon auch, dass diese Forderung, oder dass ich geschrieben habe: verpflichtendes Soziales Jahr, in gewisser Weise natürlich ein schulisches Defizit aufhängt. Nämlich dass Schule es eben oftmals nicht schafft, für diese Orientierung zu sorgen. Für eine Orientierung, die über dieses – es gibt mal einen Berufsorientierungstag oder so – was ist das denn? Ja, ich habe an anderer Stelle mal gesagt, irgendwie, drei Jahre bist du Kleinkind, dann gehst du drei Jahre in den Kindergarten, dann hast du vier Jahre Grundschule, dann hast du acht Jahre Schule, und dann sollst du in drei Monaten rausfinden, was du die nächsten 40 Jahre machst. Und darum ging es mir. Mir geht es nicht darum, zu sagen, dass junge Leute sozusagen zum Dienst an der Gemeinschaft verpflichtet werden sollen. Und wo du gerade sagst, dass das Ältere auch machen könnten. Ich glaube sowieso, dass unglaublich viele Ressourcen darin liegen könnten, Begegnungsformen zu finden, wo Menschen unterschiedlichen Alters sich darüber austauschen, was sie machen, was das überhaupt bedeutet und so weiter. Über Social Media funktioniert das natürlich auch schon. Also deshalb finde ich das so geil, beim Blogger des Jahres, oder beim goldenen Blogger, gab es da diesen Beerdigungs-Influencer und eine Dachdecker-Influencerin. Sowas finde ich Hammer. Weil es ja was anderes ist, ob man irgendwie zwei Sätze zu irgendwas liest oder richtig sieht: so, das macht die, und die steht da auf dem Dach und guckt in die Ferne und findet das geil – finde ich super. Aber ich glaube, dass wir gesellschaftlich unglaublich viele Ressourcen vernachlässigen, die wir haben könnten, wenn es eben solche Begegnungs-Möglichkeiten gäbe. Und so ein Soziales Jahr ist halt eben eine Möglichkeit für solche Begegnungen.
01:14:06Raul Krauthausen: Bob, ich könnte noch so viele Fragen stellen. Ich habe so viele Fragen hier noch auf dem Zettel. Wir haben quasi fast eine Doppelstunde jetzt hier eine Aufzeichnung gehabt. Deswegen lass mich dir noch eine letzte Frage stellen, die ich allen meinen Gästen stelle, und zwar: gibt es eine Organisation, eine NGO, die du persönlich empfiehlst, an unsere Hörerinnen und Hörer, die man unterstützen sollte, die vielleicht noch nicht jeder kennt?
01:14:36Bob Blume: Den Zukunftstag vielleicht, allerdings weiß ich jetzt nicht 100-prozentig, ob das eine NGO ist. Der Zukunftstag, da kann man nach googeln. Der muss aber vielleicht auch gar nicht finanziell unterstützt werden, sondern ich gebe dem vielleicht hier mal Raum. Das ist eine Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, eben das, was so oft gesagt wird, was in der Schule fehlt, finanzielle Bildung, Versicherungen und so weiter an die Schulen zu holen, mit Expertinnen und Experten, die dann dahin gehen und den Schülern eben diese Orientierung zumindest mal ansatzweise geben. Das wäre vielleicht etwas, was vor allen Dingen Leute im Bildungsbereich sich mal angucken können, um da den Schülern gerade der Oberstufe Orientierung zu bieten.
01:15:20Raul Krauthausen: Das verlinken wir auf jeden Fall in den Shownotes. Das finde ich einen super Tipp. Bob, nennen deine Schüler*innen dich eigentlich Herr Blume oder Bob?
01:15:28Bob Blume: Äh, die nennen mich Herr Blume, außer in Englisch, da nennen die mich oft Mister Flower.
01:15:33Raul Krauthausen: Mister Flower. Danke, Mister Flower. Ist doch ein schönes Schlusswort. Mister Flower, es war mir eine innere Fan-Meile, dich persönlich in meinem Podcast begrüsst zu haben.
01:15:45Bob Blume: Boah, vielen, vielen Dank!
01:15:46Raul Krauthausen: Sehr, sehr gerne. Wir hätten noch über so viel reden können, über Design-Thinking, über Mobbing, über die Jugend von heute und so weiter und so fort, aber ich glaube, das schließen wir ein andermal an.
01:15:56
Bob Blume: Sehr, sehr gerne.
01:15:57
Raul Krauthausen: Vielen Dank!
01:15:58
Bob Blume: Danke auch.
01:15:59
Raul Krauthausen: Wo gehst du jetzt raus, wenn der Aufzug hält, wenn die Tür aufgeht?
01:16:01Bob Blume: Ja, ich würde sagen, Kellergeschoss, und da gucke ich, was da noch für Leichen liegen für den nächsten Podcast.
01:16:10Raul Krauthausen: Dann wünsche ich dir, dass du wenig Leichen findest. Ciao. Danke fürs Mitfahren. Wenn ihr mögt und euch diese Folge Spaß gemacht hat, bewertet diese Folge bei Apple Podcast, Spotify oder wo auch immer ihr zuhört. Alle Links zur Folge, sowie die Menschen, die mich bei diesem Podcast unterstützen, findet ihr in den Shownotes. Schaut da gerne mal rein. Wenn ihr meine Arbeit unterstützen möchtet, würde ich mich freuen, euch bei Steady zu begrüßen. Mit einer Steady-Mitgliedschaft bekommt ihr exklusive Updates von mir und die Gelegenheit, mich zweimal im Jahr persönlich zu treffen. Im Aufzug ist eine Produktion von Schönlein Media. Ich freue mich auf das nächste Mal hier im Aufzug.
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Dieser Podcast ist eine Produktion von Schønlein Media.
Produktion: Fabian Gieske , Anna Germek
Schnitt und Post-Produktion: Jonatan Hamann
Coverart: Amadeus Fronk