Lauert das Böse in uns allen?
In dieser Aufzugfahrt wird ziemlich viel gelacht: Und das, obwohl es um Verbrechen, knallharten Journalismus und das Böse in uns geht. Zu Gast ist natürlich die True-Crime-Expertin Sabine Rückert. Viele kennen sie bestimmt aus dem Podcast „Verbrechen” der Zeit oder als stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT.
Sie ist aber auch Pfarrerstochter: Der Glaube begleitet sie also schon ihr Leben lang. Wir sprechen darüber, wie Journalismus und Religion zusammenpasst und warum Sabine die Bibel so unglaublich spannend findet. Beruflich beschäftigt sie sich ständig mit dem Tod. Das hat ihren Blick aber nicht getrübt – es macht sie dankbar.
Und doch fragt sie sich: Was bleibt eigentlich am Ende, abseits der Arbeit? Ich durfte viel Spannendes über Sabine Rückert erfahren: über ihre Überlegung, ein soziales Jahr zu machen und dass sie seit 30 Jahren in einer WG wohnt. Neugierig?
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Raúl Krauthausen: Bevor es heute losgeht, ihr wisst was jetzt kommt, wie immer der Hinweis auf Steady. Mit Steady könnt ihr nämlich diesen Podcast finanziell unterstützen. Mit einem kleinen monatlichen Beitrag helft ihr mir und dem Team den Podcast Schritt für Schritt unabhängig zu produzieren. Jetzt unter www.im-aufzug.de informieren und Unterstützer*innen werden. Supporter*innen erhalten vorab Zugang zu neuen Folgen und werden namentlich im Podcast genannt. Diese Woche geht also der Dank an die Unterstützer*innen Johanna, Karoline, Martin, Niels und Rico. Und schon geht’s los! In dieser Aufzugsfahrt wird ziemlich viel gelacht. Und das, obwohl es um Verbrechen, knallharten Journalismus und das Böse in uns geht. Zu Gast ist natürlich die True-Crime-Expertin Sabine Rückert. Viele kennen sie bestimmt aus dem Podcast „Zeitverbrechen“ oder als stellvertretende Chefredakteurin der „Zeit“. Sie ist aber auch Pfarrerstochter. Der Glaube begleitet sie also schon ihr Leben lang. Wir sprechen darüber, wie Journalismus und Religion zusammenpassen und warum Sabine die Bibel so unglaublich spannend findet. Beruflich beschäftigt sie sich ständig mit dem Tod. Das hat ihren Blick aber nicht getrübt. Es macht sie dankbar. Und doch fragt sie sich, was bleibt eigentlich am Ende abseits der Arbeit? Ich durfte viel Spannendes über Sabine Rückert erfahren. Über ihre Überlegung, ein soziales Jahr zu machen und dass sie seit 30 Jahren in einer WG wohnt. Neugierig? Los geht’s mit der Folge. Die Tür geht auf und wer kommt rein? Es ist mir eine ganz, ganz große Ehre: Sabine Rückert ist heute zu Gast. Hallo Sabine!
00:01:54
Sabine Rückert: Hallo. Hallo, grüß dich Raúl!
00:01:57
Raúl Krauthausen: Wir sind ja hier im Aufzug jetzt quasi mehr oder weniger gefangen. Nein, nicht gefangen, wir sind ja beide freiwillig hier. Aber du bist wahrscheinlich auch sehr viel unterwegs und trifft vielleicht sogar auch den einen oder anderen Menschen im Aufzug. Hattest du schon mal eine merkwürdige Begegnung in einem Aufzug?
00:02:15
Sabine Rückert: Ich habe eine merkwürdige Begegnung gehabt, weil ich mal in einem Aufzug stecken geblieben bin.
00:02:19
Raúl Krauthausen: Oha!
00:02:20
Sabine Rückert: Aber Gott sei Dank nicht so lang, dass es jetzt wirklich zu einem Trauma geführt hätte. Es waren nur ein paar Minuten, und der Mensch, mit dem ich da eingesperrt war, den kannte ich gar nicht. Und es hat sich dann auch rasch wieder gelöst, aber ich kann mir vorstellen, dass Aufzüge wirklich… Es gibt ja Horrorfilme auch, nicht? Und Thriller, die mit Aufzügen zu tun haben. Also, Aufzüge sind mit Vorsicht zu genießen. Und man weiß ja auch, wenn ein Haus in Flammen steht, das Allerletzte, was man machen soll, ist den Aufzug zu benutzen.
00:02:50
Raúl Krauthausen: Aber nur wegen des Kamin-Effekts. Nicht, weil er kaputt gehen könnte, sondern weil der Rauch sich dann darin quasi bündelt.
00:03:00
Sabine Rückert: Und ich benütze in letzter Zeit auch häufiger Treppen, weil mein Gewicht aus der Kontrolle gerät. Deswegen meide ich den Aufzug.
00:03:08
Raúl Krauthausen: Diese Wahl habe ich ja leider nicht als rollstuhlfahrender Mensch. Manchmal liest man dann auch so Sprüche, wer gesund bleiben will, geht die Treppe. Und dann denke ich so: Ja, aber krank bin ich ja auch nicht. Aber gut, das ist dann wahrscheinlich noch mal ein anderes Thema. Kannst du dich an einem Gerichtsfall erinnern, der irgendwas mit einem Aufzug zu tun hat? Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, so was wie sexuelle Übergriffe im Aufzug sind wahrscheinlich gar nicht so selten.
00:03:35
Sabine Rückert: Ja, aber ich kann mich an keinen erinnern. Also ich hatte mit sowas nie zu tun, mit Aufzügen – doch! Ich kann mich an einen erinnern!
00:03:44
Raúl Krauthausen: Erzähl!
00:03:45
Sabine Rückert: Da hat aber nicht der Fall mit dem Aufzug zu tun, sondern die Festnahme.
00:03:50
Raúl Krauthausen: Ach was!
00:03:51
Sabine Rückert: Als Jörg Kachelmann festgenommen worden ist, kam er ja zurück von den Olympischen Spielen, die er als Wetter-Moderator und als Sportmoderator begleitet hat, im Jahr 2010. Aus Kanada kam er da zurück. Und inzwischen hatte die Frau, die ihn ja fälschlich der Vergewaltigung bezichtigt hatte, die hatte ihn mittlerweile angezeigt, während er in Kanada war. Und als er dann zurückkam, wurde er von seiner Freundin abgeholt am Ausgang des Flughafens. Und da kam er eben mit anderen Passagieren durch die Schiebetür und sie hat ihn begrüßt. Und dann ist man in den Aufzug gestiegen, der die beiden dann hinauf befördern sollte, auf das Deck, wo ihr Auto stand, oder sein Auto stand. Und dann stiegen die beiden ein und plötzlich merkte er, dass zehn Personen mit einsteigen. Und das fand es sehr eigenartig. Die sahen alle irgendwie gleich aus. Und mit denen fuhr er dann auf dieses Parkdeck und da stiegen mit ihm alle zehn Personen aus, drehten sich um und sagten: Sie sind verhaftet. Und da stellte er fest, das waren alles Kriminalbeamte, die dazu abgestellt waren, ihn zu überwältigen. So war das.
00:05:14
Raúl Krauthausen: Wow! Aber das ist ja wie im Film, dass da die Polizisten alle gleich aussehen.
00:05:19
Sabine Rückert: Ja, vielleicht habe ich auch ein kleines bisschen hinzu erfunden (lacht).
00:05:26
Raúl Krauthausen: Und die geneigte Hörerin oder der Hörer wird sich jetzt vielleicht erinnern, dass Sabine Rückert sehr bekannt ist für ihre Podcasts, unter anderem „Zeitverbrechen“, wo zahlreiche Justizfälle im Nachhinein quasi noch mal rekonstruiert beziehungsweise erzählt werden, die alle sehr spannend sind. Wo ich selber auch die eine oder andere Folge durch-gesuchtet habe, so es denn meine Zeit erlaubt. Da kommen wir aber später noch mal zu, zu dem Thema Recht und Gerechtigkeit. Erst mal vielleicht ein paar persönliche Informationen, die viele Hörer*innen vielleicht noch gar nicht kennen: Du bist eine Pfarrerstochter.
00:06:10
Sabine Rückert: Ja, das stimmt. Ich bin eine Pfarrerstochter.
00:06:12
Raúl Krauthausen: Angela Merkel auch.
00:06:13
Sabine Rückert: Ja, das verbindet mich mit ihr.
00:06:16
Raúl Krauthausen: Kennt ihr euch?
00:06:17
Sabine Rückert: Nein, wir – doch, doch, doch, wir kennen uns! Also ich habe sie vor vielen Jahren, da war sie noch Generalsekretärin der CDU, da habe ich sie besucht und ganz lange interviewt und ein Porträt über sie geschrieben, über drei Seiten. Das war ganz am Anfang, also nicht ganz am Anfang, sie war ja am Anfang eben Ministerin für Familie, glaube ich, und dann für Umwelt und dann war sie Generalsekretärin der CDU. Und da hat sie sich dann gegen Helmut Kohl positioniert und genau da habe ich sie kennengelernt. Da habe ich sie besucht. Und dieser Abfall der Angela Merkel von System Kohl, das war das Thema. Und da haben wir uns unendlich lange unterhalten. Ich glaube, 3 Stunden oder was, ich habe alles mitgeschnitten, und das war ein unglaublich tolles Interview. Aber sie hatte schon damals diese Angewohnheit, die sie dann später noch perfektioniert hat, nämlich, dass sie unglaublich lebendige Interviews gibt und hinterher alles rausstreicht, was interessant ist.
00:07:13
Raúl Krauthausen: Ach, krass!
00:07:14
Sabine Rückert: Sie hat dann Wahlkampf gemacht und ich bin ihr noch hinterher gefahren, um einzelne Passagen zu retten. Und es ist mir dann auch gelungen, nicht alle, aber manche. Und so sind wir dann verblieben.
00:07:30
Raúl Krauthausen: Eine Reportage oder Dokumentation mit Angela Merkel, an die ich mich sehr gerne erinnere, ich glaube, sie hieß „Die Unerwartete“ in der ARD-Mediathek, handelte wirklich so von Anfang bis zur Gegenwart der Merkel-Ära. Und was mich sehr beeindruckt hat, unabhängig davon, ob ich sie wählen würde, dass sie offensichtlich die ganzen Männer um sich herum…
00:07:59
Sabine Rückert: …erledigt hat.
00:08:00
Raúl Krauthausen: Erledigt hat, durch Fleiß. Also, dass sie einfach immer mehr Bescheid wusste als die Männer. Und die Männer immer dachten, sie kommen weiter, so wie sie es immer gemacht haben.
00:08:10
Sabine Rückert: Ja, das kann sein, und sie hat es natürlich auch durch die innere Unabhängigkeit – also, dieses: „Ja, wir sind jetzt Buddies für den Rest unseres Lebens,“ und so, das kannst du mit Frau Merkel nicht machen. Es gibt von Madonna ein wunderbares Lied, das ich auch für mich in Anspruch nehme – learn to say goodbye – und das Lied hat den Titel: „The Power of Goodbye“. Und das hat Angela Merkel verstanden.
00:08:42
Raúl Krauthausen: Gleichzeitig ist es aber auch tragisch, dass man immer 120,130 Prozent geben muss als Frau in einer männerdominierten Welt.
00:08:51
Sabine Rückert: Ich weiß es nicht. Also, ich habe nicht den Eindruck, dass ich recht viel mehr gegeben habe, als die Männer um mich herum. Ich kann das für mich jetzt nicht behaupten. Ich bin aber auch keine Bundeskanzlerin.
00:09:03
Raúl Krauthausen: Ist das jetzt „zum Glück“ oder „leider“?
00:09:06
Sabine Rückert: Zum Glück! Ich bin ja nicht angetreten, um es allen zu zeigen und jetzt Tag und Nacht schweißüberströmt hier zu sitzen, um alle um mich herum platt zu machen, karrieremäßig. Sondern mir ist das alles immer so zugeflogen, ehrlich gestanden. Ich habe mich um wenig gerissen, wirklich. Sondern das kam alles so, weil es irgendwie, da gab es keine Alternative (lacht). Und dann hat man halt mich genommen.
00:09:35
Raúl Krauthausen: Was ja nicht immer so in deinem Leben war, nach deinem Studium. Übrigens haben wir fast das gleiche studiert, ich habe Kommunikationswirtschaft studiert an der UdK Berlin. Und nach deinem Studium wusstest du nicht so richtig, wohin mit dir. Und warst so ein bisschen, ja, wie soll ich mal sagen, orientierungslos. Woran lag das?
00:09:58
Sabine Rückert: Ja, das lag daran, dass ich immer fremdbestimmt war in den ersten Jahren meines Lebens. Also ich war eben kein erwachsener Mensch. Ich war auch, obwohl ich 27 war oder als ich fertig war war ich 25, dann habe ich da rumprobiert und war dann hier im Praktikum. Erst wollte ich in die Werbung gehen, das war alles furchtbar. Dann habe ich so ein bisschen rumgeschrieben, Reisen gemacht und sonst was. Aber letztlich war es eine große Phase der Unzufriedenheit. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Dann habe ich mich beworben bei der Axel-Springer-Journalistenschule in Berlin, und die haben mich genommen. Und warum, weiß ich bis heute nicht, das war ein Gottesurteil. Denn es war ein wahnsinniger Andrang und ich hatte nichts vorzuweisen. Also nur die mir abverlangten Texte habe ich geschrieben. Und dann haben die mich da eingestellt. Ich weiß auch nicht warum, und das war ein großes Glück. Ich habe auch gerade mit jemandem darüber gesprochen hier im Haus, dass da eben sehr, sehr viele Leute schon in dieser Klasse waren, die aus Verlegerfamilien kamen, aus Chefredakteursfamilien und so weiter. Also, das waren alles Leute mit Netzwerk-Beziehungen. Ich habe mir das richtig so erkämpft.
00:11:23
Raúl Krauthausen: Und was war der erste Text, den du da eingereicht hattest? Kannst du dich noch erinnern?
00:11:26
Sabine Rückert: Ja, es war ein Thema, es war vorgegeben. Es war die Flugangst.
00:11:30
Raúl Krauthausen: Die du ja selber hast.
00:11:32
Sabine Rückert: Das Thema war nicht vorgegeben, sondern ich sollte mir ein Thema suchen, das mich beschäftigt und darüber verschiedene Texte schreiben. Und ich habe über die Flugangst geschrieben, weil die hat damals mein Leben bestimmt. Ich war damals eben Mitte 20 und alle um mich herum flogen in alle Welt. Da gab es noch keine Flugscham. Das war Mitte der achtziger Jahre und da waren alle irgendwann in Amerika und sonst wo. Nur ich saß fest, fest einbetoniert in Deutschland, weil ich in kein Flugzeug eingestiegen bin. Und hin und wieder mit dem Auto nach Italien.
00:12:05
Raúl Krauthausen: Was würdest du denn jetzt jungen Erwachsenen empfehlen, wenn sie nicht so genau wissen, wohin mit sich selbst?
00:12:12
Sabine Rückert: Ich würde Ihnen sagen, dass sie sich auf keinen Fall reinreden lassen sollen von Dritten, was sie machen sollen. Also, dass diese guten Ratschläge aus der Eisdiele, die andere für einen ersinnen oder ganz schlimm: die Eltern für einen ersinnen, das ist in der Regel Quatsch. Ich glaube, dass das ganz normal ist, ich finde es eher bedrückend, wenn jemand mit 20 weiß, wohin mit sich selbst. Ehrlich gestanden, ich finde das beängstigend, wenn jemand mit 20 sagt, mit 25 mache ich das, mit 27 mache ich das, und mit 32 heirate ich, und mit 35 kommt das erste Kind, mit 38 das zweite und so weiter. Und dann frage ich mich, steht der Suizid auch schon fest?
00:12:55
Raúl Krauthausen: Oder als Teenager ein Poster von Helmut Kohl über dem Bett hängen hat. Wie Angela Merkel es angeblich hatte.
00:13:03
Sabine Rückert: Ja, vielleicht erlernt sie jetzt erst, was es heißt, richtig frei zu sein.
00:13:08
Raúl Krauthausen: Apropos, ich habe neulich einen Artikel gelesen über Peter Altmaier und Angela Merkel, jeweils im „Spiegel“. Und ich muss sagen, ich fand es richtig tragisch, weil beide so auch sehr einsam rüberkamen. Im Sinne von, wir haben jetzt so viel gearbeitet und Freunde wahrscheinlich auch gar nicht mehr so viele, einfach auch aufgrund der Arbeit, die wahrscheinlich mit der Zeit verloren gingen.
00:13:37
Sabine Rückert: Ja, man hat nur noch Kollegen irgendwann mal.
00:13:39
Raúl Krauthausen: Genau. Und dass die dann auch irgendwie so einer Vergangenheit nachtrauerten, auf eine Art, die sie nie mehr haben werden.
00:13:48
Sabine Rückert: Ich glaube, dass das auch der Grund ist. Moment, ich schreibe gerade etwas auf, was ich nicht vergessen will, weil ich es dir gleich noch erzählen will. Also, das ist natürlich ein Thema, ich bin jetzt 62, da hast du bei mir einen Nerv getroffen. Das interessiert mich nämlich sehr. Was bleibt vom Leben, wenn die Arbeit abgezogen wird? Und wenn du sagst, das ist eine traurige Bilanz, die die da ziehen, dann finde ich das schlimm. Ich kann es verstehen, weil man natürlich als Minister, als Wirtschaftsminister und als Bundeskanzlerin 24/7 im Einsatz ist. Man hat kein Wochenende, man hat keine Zeit für Freunde. Und deswegen halten ja viele auch, viele in einflussreichen Posten auch an diesen Posten bis zum Grabe fest, weil sie ohne diesen Posten auch gar keine Identität mehr haben. Weil sich kein Mensch mehr für sie interessiert. Ihre gesamten sozialen Verhältnisse haben sie vernachlässigt und jetzt sitzen sie da. Und die Gattin sagt: Was willst denn du hier? Jetzt muss ich um dich rum staubsaugen, so ungefähr. Das ist natürlich keine schöne Position. Und ich habe mal ein Interview gemacht mit Joschka Fischer vor einiger Zeit, das ist ein paar Jahre her, aber noch nicht so lange. Und ich habe ihn dann auch gefragt, haben Sie eigentlich Freunde gehabt, als Sie Außenminister waren und als Sie in der Regierung waren. Und da sagte er: Nein, ich habe die ganze Zeit über keine Freunde gehabt. Man hat keine Freunde als Politiker. Und alle Freunde, die ich während dieser Zeit hatte und die ich auch danach hatte, waren die alten Freunde aus dem Studium, die mich gekannt haben, als ich noch niemand war. Und die ich heute wieder habe.
00:15:31
Raúl Krauthausen: Und die einen vielleicht auch erden, nicht wahr?
00:15:34
Sabine Rückert: Ja, wenn man sie hält. Aber er sagt, in der Politik gibt es nur Parteifreunde aber es gibt keine richtigen Freunde, denn es geht immer um Interessen, und die stehen im Vordergrund.
00:15:47
Raúl Krauthausen: Es gab mal in der New York Times einen Artikel über den damaligen Apple-Chefdesigner John Ivy. Und der wurde auch so ähnlich dargestellt, dass er sehr einsam ist, sehr weit oben in dem Konzern sitzt, mit dem Tod von Steve Jobs auch keinen Sparringspartner mehr hatte. Und seine Freunde waren dann am Ende Menschen, die so sind wie er. Das bedeutet George Lucas und Steven Spielberg, die auch alle auf der Suche sind nach dem nächsten großen Megahit, weil ein Fail dürfen sie sich nicht leisten. Das fand ich auch irgendwie einsam und tragisch. Dann doch lieber die graue Maus von nebenan.
00:16:32
Sabine Rückert: Ja, das stimmt. Lieber im Chor singen als Solist. Der Solist, wenn der mal einen Kratzer macht, das hört jeder. Aber im Chor kann man sehr schön auch mal falsch singen. Das stört keinen großen Geist, und man ist immer unter Leuten.
00:16:45
Raúl Krauthausen: Was ich sehr sympathisch finde, ist das dein Wohnmodell ein sehr Ungewöhnliches ist, zumindest mit 62. Du lebst nämlich in einer WG mit deinem Mann und einem befreundeten Paar. Was macht das Zusammenleben für dich so besonders?
00:17:00
Sabine Rückert: Ja, dass wir schon 30 Jahre zusammen leben. Als wir zusammengezogen sind, waren wir nicht alle 60, sondern wir waren alle 30. Und ich war durch Zufall, also ich habe in Hamburg eine Wohnung gesucht und ein Kollege von mir ist ausgezogen und hat gesagt: Du, ich habe hier einen jungen Arzt aus dem Universitätsklinikum, der ist da Assistenzarzt. Wir haben eine 4-Zimmer-Wohnung, der sucht jemanden, der bei ihm einzieht. Und dann habe ich gesagt: Oh super, da ziehe ich ein. Dann kam ich da rein, da saß dann ein junger Mann mit langen Haaren, so halblangen Haaren, so Schwarzen, heute hat er gar keine mehr, und hat da eine gequalmt. Und dann haben wir uns gleich eine angesteckt und erst mal hat er mir Kaffee gemacht und Kuchen, selbst gebacken. Und dann haben wir uns kennengelernt und waren einverstanden miteinander und haben uns dann eine Wohnung geteilt. Und haben in dieser Zeit unendlich viel gequalmt und getrunken, also furchtbar war das. Heute würde ich sofort umfallen, nach drei Gläsern, aber damals habe ich das alles noch locker weggesteckt. Und dann kam seine Freundin dazu, die er seit ganz kurzer Zeit hatte, das war 1992, also vor 31 Jahren. Und dann kam mein Freund dazu, den ich schon ewig hatte, ich bin ja mit meinem Mann zusammen, seit wir 17 sind.
00:18:21
Raúl Krauthausen: Ihr habt euch auch in der Turnhalle kennengelernt.
00:18:24
Sabine Rückert: Ja genau, in der Schule haben wir uns kennengelernt, bei einem Volleyball-Spezial, er war in meiner Parallelklasse. Und er zog dann auch noch dazu und dann waren wir zu viert, und das ging extrem gut. Wir haben so viel Spaß gehabt zusammen und haben dann so lustig gekocht und haben dann beschlossen, wir bleiben zusammen, aber die Wohnung ist zu klein. Wir müssen uns jetzt was anderes suchen, wir platzen aus allen Nähten. Also, da war ja ein Wohnzimmer und dann gab es noch ein kleines Gästezimmer und ein winziges Schlafzimmer, da wohnte der Christian drin, und ein großes Schlafzimmer, da wohnte ich drin. Und wenn unsere Partner da waren, dann haben wir uns da reingequetscht in die Wohnung und so konnte das nicht bleiben. Und dann haben wir gesagt: So, jetzt kaufen wir uns eine Wohnung. Wir waren damals Mitte 30 und wollten irgendwie sesshaft werden, wollten auch ein Kind haben. Und dann sind wir da durch Hamburg getigert und haben irgendwo eine Wohnung gesucht. Wir haben nichts gefunden, was wir uns hätten leisten können. Also es war alles extrem teuer oder es war irgendwie marode. Und mein Mann ist Ingenieur, Bauingenieur und Architekt, und der hat das natürlich gesehen, wenn man uns da irgendwas angedreht hat. Und dann sind wir irgendwann rausgezogen. Irgendwann haben wir es dann satt gehabt und sind rausgezogen und wohnen jetzt außerhalb von Hamburg in der Natur, in einem Naturschutzgebiet, in einem alten Haus, das es schon gab. Und das hat mein Mann umgebaut für eine WG. Und da wohnen wir seither und erst habe ich ein Kind gekriegt, dann haben die Müllers ein Kind gekriegt und dann noch eins, also mit drei Kindern. Und dann zogen noch weitere Leute hinzu und jetzt sind wir eine richtige kleine Gemeinde.
00:20:14
Raúl Krauthausen: Wow, wie schön!
00:20:16
Sabine Rückert: Deswegen habe ich auch keine Sorge vor Einsamkeit, denn ich werde den ganzen Tag daheim korrigiert und zurechtgewiesen, ich soll mal die Mülltonnen raus stellen, ich sei dran. Also da braucht man sich keine Sorgen machen, dass man da die Bodenhaftung verliert.
00:20:30
Raúl Krauthausen: vor ein paar Jahren habe ich mal eine Reportage gesehen über den ehemaligen Bremer Bürgermeister Henning Scherf.
00:20:37
Sabine Rückert: Ja, der wohnt auch in einer WG.
00:20:38
Raúl Krauthausen: Der wohnt nämlich auch in einer WG und die haben das so organisiert, dass sie von vornherein geplant haben, dass wenn sie mal alt sind und pflegebedürftig, sie in ihrem Haus auch so eine Art Pflegedienst haben können und sie sich dann quasi die Pflege teilen. Und das finde ich auch ein schönes Modell, wenn man sich das leisten kann natürlich nur. Aber die haben das schon 40 Jahre zuvor geplant.
00:21:03
Sabine Rückert: Ja, das war auch alte Freunde, nicht wahr? Ganz alte Freunde. Also, dazu kann ich folgendes sagen: erstens, der wohnt ja in einer Hausgemeinschaft, da hat jeder sein Apartment. Das haben wir auch, wir haben auch unseren Teil des Hauses, aber wir haben keine Hausgemeinschaft. Wir sind eine richtige Wohngemeinschaft. Also ich kann jederzeit zu den Müllers reinlatschen und die zu mir. Und im Nebenhaus hat sich jetzt meine Schwester niedergelassen, mit der ich den Podcast „Unter Pfarrerstöchtern“ mache. Die ist jetzt das dritte Mal geschieden gewesen und dann hat sie gesagt, jetzt reicht’s ihr. Und dann habe ich gesagt: Komm doch zu uns. Und jetzt wohnt sie im Nebenhaus. Sie gehört auch noch zu dem erweiterten Kreis der Wohngemeinschaft. Und dann haben wir noch eine Schauspieler-Familie vom Schauspielhaus hier, mit vier Kindern, die hat sich da ein Wochenend-Domizil eingerichtet, die wohnt auch noch da. Und noch ein paar andere Leute, die sich da eingemietet haben. Also wir haben uns ein bisschen ausgebreitet im Lauf der Zeit, und insofern ist es immer sehr lustig. Und wir haben Spaß und können im Garten Feuer machen und sonst was. Also ich habe jetzt keine Sorge vor Vereinsamung. Aber, was ich noch sagen wollte zur Pflege usw., wenn man das dann weiter denkt, so 10, 20, 25 Jahre weiter denkt, dann bin ich Mitte 80, dann würde ich da nicht mehr bleiben können, und auch nicht wollen. Also dann würde ich wahrscheinlich nach Hamburg reinziehen, wo man dann, wenn man älter wird und Aufzug braucht – also als Mensch, der irgendwie Probleme mit Treppen hat oder so, da kann man in dem Haus, in dem ich jetzt wohne nicht bleiben.
00:22:46
Raúl Krauthausen: Auch nicht nachträglich nachrüsten?
00:22:47
Sabine Rückert: Muss ich mal sehen, ein Treppenlift oder sowas, ja.
00:22:51
Raúl Krauthausen: Also ich hab hier in meiner Wohnung, ich wohne auch in einem Altbau, haben wir so einen Home-Lift uns einbauen lassen. Das ist eigentlich so eine kleine Kabine, aber ohne Schacht, die in der Wohnung hoch und runter fahren kann.
00:23:03
Sabine Rückert: Also so eine Art, wie nennt man das?
00:23:05
Raúl Krauthausen: Home-Lift.
00:23:07
Sabine Rückert: Ja, aber gibt es da… Also der ist offen?
00:23:12
Raúl Krauthausen: Nein, das ist so eine Kabine, eine halbe Kabine im Prinzip. Also es ist kein Plattform-Lift, weil es quasi kein Schacht hat, sondern diese Kabine fährt an so einer Stange hoch und runter.
00:23:25
Sabine Rückert: Ach so ist das. Nicht wie ein Paternoster, nachdem Wort habe ich gerade gesucht.
00:23:29
Raúl Krauthausen: Nein nein, kein Paternoster. Weil dafür gäbe es in der Wohnung ja keinen Platz. Das heißt, da wo Aufzug gerade nicht ist, da ist dann quasi Freifläche und da kann man dann auch dran lang laufen. Und da wo der Aufzug ist, da steht dann quasi die Kabine. Aber es gibt auch nur ein Angebot: Home-Lift. Einfach googeln und dann kommt man immer auf den gleichen Hersteller (Lachen). Deine Schulzeit, hast du in einen Podcast mit Matze Hielscher erzählt – nein, mit Bob Blume war das – dass das eine inklusive Schulzeit war. Also ihr wart irgendwie 42 Kinder oder so in der Klasse, und da waren auch Kinder mit Behinderung dabei. Und das hat mich natürlich sofort abgeholt, meine Klasse war jetzt nicht 42 Kinder, aber wir waren 25, aber auch inklusiv, Kinder mit und ohne Behinderung, gemeinsam beschult, in den Achtzigern, also ein bisschen später. Aber da scheinen wir ja auch eine Gemeinsamkeit zu haben.
00:24:29
Sabine Rückert: Ja, wobei das damals bei mir, es war ja in den sechziger Jahren, noch nicht inklusiv hieß, sondern da waren die einfach auch dabei. Das war ganz normal und ich habe das als völlig normal empfunden, dass die da auch waren. Die haben zum Teil Verhaltensauffälligkeiten gehabt, also der Hansi zum Beispiel, der war – ich weiß nicht was heute die Diagnose wäre – aber der hatte eine Einschränkung, eine spastische Einschränkung auch, aber nur manchmal, nicht immer. Und hatte auch eine intellektuelle Einschränkung. Und war unheimlich unruhig, also der sprang immer auf und verließ mittendrin den Raum, im Unterricht, oder sprang auf und machte gerade irgendwas anderes. Da hat aber unsere Lehrerin, Frau Stolpe, nicht weiter drauf gegeben. Also die hat da nicht gesagt: Setz dich hin, sonst gibt es Haue oder Ecke stehen oder sowas, überhaupt nicht. Sondern die war sehr nett zu ihm und wir haben das einfach so hingenommen. Also für uns war das ganz normal, dass der Hansi manchmal durch den Raum sprang.
00:25:34
Raúl Krauthausen: Und wie war das Klassenverhältnis insgesamt?
00:25:38
Sabine Rückert: Bitte?
00:25:39
Raúl Krauthausen: Das Klassenverhältnis insgesamt, das Gefüge. War das irgendwie freundschaftlich oder war das Konkurrenz? Gab es Mobbing?
00:25:45
Sabine Rückert: Null! Null! Das war eine kleine Volksschule in Lochham damals, am Rand von München, also ganz klein. Und da waren halt wahnsinnig viele Kinder, aber sonst war es eine sehr nette, sehr nette Schule. Also ich bin da gern hin gegangen. Meine Probleme fingen ja später an, im Gymnasium, mit dem Frontalunterricht und dem Langweil-Kram, den man da eingetrichtert bekam.
00:26:13
Raúl Krauthausen: Und was waren denn deine Lieblingsfächer?
00:26:15
Sabine Rückert: Sagen wir mal so, Lieblingsbücher heißt ja, dass ich viele mochte, aber einige besonders. Das ist ja völlig falsch (lacht). Ich mochte keines, aber einige habe ich erträglich gefunden.
00:26:28
Raúl Krauthausen: Okay, welche waren das?
00:26:30
Sabine Rückert: Das war Biologie, Biologie fand ich richtig gut. Wenn ich heute noch mal studieren würde, würde ich Biologie studieren. Und das andere, was mich interessiert hat, war Deutsch. Und Religion, wobei Religion im Laufe der Jahre immer langweiliger wurde. Das wundert mich, denn Religion ist ja etwa ein tolles Fach. Also der Hang des Menschen zum Transzendenten. Und: was ist Religion und wo kommt das her? Wieso erfinden wir Götter? Warum bilden wir uns ein, dass es einen Gott gibt? Und warum bilden wir uns so einen fürchterlichen Gott ein wie den der Bibel? Woher kommt das? Diese Sachen sind sehr interessant. Und natürlich, in der Grundschule habe ich die biblischen Geschichten gelernt, die kannte ich ja schon von zu Hause her. Aber die sind fantastisch! Also für ein Kind sind diese Geschichten unglaublich. Ich würde jedem Kind die biblischen Geschichten erzählen, weil sie einfach großartig sind.
00:27:31
Raúl Krauthausen: Aber schon auch hart brutal, oder?
00:27:33
Sabine Rückert: Ja natürlich, aber das sind Märchen ja auch.
00:27:37
Raúl Krauthausen: Ja, das stimmt.
00:27:39
Sabine Rückert: (lacht) Die Kinder halten schon was aus. Also viel mehr, als man ihnen zutraut.
00:27:45
Raúl Krauthausen: Du hast ja vorhin schon erzählt, dass du nach der Schule dann Volontär bei der Bild-Zeitung, oder beim Axel-Springer-Verlag begonnen hast. Und interessanterweise zucken ja viele Leute dann zusammen, wenn man das Wort „Bild“ hört. „Die Bild.“
00:28:00
Sabine Rückert: Ja, verstehe ich ja auch.
00:28:02
Raúl Krauthausen: Aber gleichzeitig sind angeblich jeweils die besten Journalist*innen immer vorher bei Axel Springer gewesen. Was lernt man bei der Bild, was man bei den anderen nicht lernt?
00:28:15
Sabine Rückert: Also ich habe bei der Bild erstens gelernt, dass die Menschheit ganz anders ist als bei mir zu Hause. Also für mich war das ein richtiges – wie nennt man das? Ice Bucket Challenge (lacht). Das war das, was ich bei der Bild-Zeitung erlebt habe. Ich kann da also aus meinem wohlbehüteten Kindergarten, der mein Zuhause war und bin dann in die Bild-Zeitung gekommen. Also inhaltlich, ich war dann bei den Polizeireportern, das war ja schon ein Schreck, aber auch die Leute, wie die miteinander umgingen und was da für ein Ton war und was für Leute da arbeiteten, das war also für mich völlig ungewohnt. Auch viele Leute mit völlig fehlender Empathie und zynisch. Bild München war auch ein besonders hartes Pflaster damals, weil sie extrem unter Druck stand, die Zeitung. Und weil es eben viele gute Boulevardzeitungen in München damals gab, aber die Bild-Zeitung sich da nicht richtig durchsetzen konnte und schlechte Zahlen hatte. Und dementsprechend war die Stimmung und dementsprechend war das Personal drauf. Also es war sehr unerfreulich. Aber ich habe da gelernt, erstens natürlich raus und an die Leute ran. Also klingeln, bis der Arzt kommt und überall versuchen an Informationen zu kommen. Das sogenannte Witwenschütteln habe ich da gelernt, dass man also versucht mit allen möglichen Finessen an Fotos von Verblichenen oder von Tatverdächtigen zu kommen. Insofern lernt man auch sehr viel über sich, wie weit man zu gehen bereit ist, wenn man so richtig unter Druck gerät. Und dann habe ich natürlich gelernt, mich kurz zu fassen. Denn bei der Bild-Zeitung sind 80 Zeilen das, was in der Zeit ein Dossier ist. Also 80 Zeilen, das ist das Maximum.
00:30:19
Raúl Krauthausen: Da ist ja dann quasi dein Studium der Werbung gar nicht so falsch gewesen. Da muss man sich ja auch immer kurz fassen.
00:30:25
Sabine Rückert: Ja, aber soweit kam ich gar nicht. Also in meinem Praktikum der Werbung habe ich gar nichts machen dürfen. Das fand ich ganz nervig, also furchtbar. Da ging es auch gar nicht um Werbung und da ging es auch gar nicht um Texten, sondern da ging es immer nur um Farben und um irgendwelche Filme, also fürchterlich war das. Langweilig. Langweilig! Also tagelange Film-Aufzeichnungen für irgendein Spülmittel. Boah, das ist so langweilig, das kann man sich gar nicht vorstellen!
00:30:55
Raúl Krauthausen: Ich habe super viele Fragen vorbereitet, die du teilweise schon angeschnitten hast, wo ich so denke: Gehen wir da jetzt rein, oder gehen wir erst später da rein? Aber du hast gerade das Wort „Witwenschütteln“ genannt. Das ist ein sehr spannendes Wort, das hat was bei mir ausgelöst. Und zwar, wenn irgendwo etwas passiert, eine Tat, und dann der klassische Journalismus natürlich losgeht, und dann gibt es irgendwie die Nachrichten-Werttheorie, wo dann geguckt wird: Okay, ein Flugzeug stürzt ab, irgendwo in Spanien, und dann dauert es zwei Tage, bis dann diskutiert wird, ob das in Deutschland auch passieren könnte. Und das ist quasi vorhersehbar, welche Themen diskutiert werden. Und das gleiche kann man auch bei einem Femizid zum Beispiel denken: Eine Frau wird umgebracht, und dann rennen Journalist*innen raus und fragen Frauen auf der Straße, ob sie Angst haben, nachts durch die Stadt zu laufen. So, das verstehe ich alles, aber wenn zum Beispiel in Potsdam, im Oberlin-Haus, eine Pflegerin vier behinderte Bewohner*innen tötet, vor zwei Jahren, habe ich keinen einzigen Journalisten gesehen in Deutschland, der rausgegangen ist und Wohnheime aufgesucht hat, um andere Menschen mit Behinderung zu fragen, ob sie auch Angst haben. Woran liegt es, dass wenn wir das Thema Behinderung in den Medien haben, immer nur nichtbehinderte Menschen befragt werden? Also Polizei-Psychologen, Ärzt*innen, Politiker*innen, Pfleger*innen, Eltern – aber super selten Menschen mit Behinderung selbst.
00:32:37
Sabine Rückert: Hättest du den Angst? Dass du in die Hände von Leuten gerätst die dir…
00:32:42
Raúl Krauthausen: Ja klar! Auf jeden Fall. Ich war selbst fünf Tage undercover in einem Behinderten-Wohnheim, um genau auch mal zu zeigen, wie es den Menschen in solchen Einrichtungen geht, von denen wir immer glauben, dass gut für sie gesorgt wird. Aber in Wirklichkeit scheinen wir gar kein Interesse daran zu haben, wie es den Menschen dort wirklich geht. Wir glauben es nur zu wissen.
00:33:03
Sabine Rückert: Es gibt ja sehr viel Interesse an den Hilflosen in Krankenhäusern. Also bei Krankenhäusern gibt es ja auch immer wieder, und nicht zu knapp, Pflegerinnen und Pfleger, die dort ungestraft über viele Jahre Leuten das Leben nehmen, wo es keiner merkt. Da gibt es dann ein großes Interesse, das stimmt schon, weil natürlich jeder schon mal im Krankenhaus war und jeder sich denkt: Hm, das könnte mir auch passieren. Und je hilfloser ich bin, umso eher könnte es mir passieren.
00:33:36
Raúl Krauthausen: Und ich frage mich auch, zum Beispiel bei dem Oberlin-Haus Fall jetzt, also ich habe mich damit die letzten zwei Jahre sehr intensiv beschäftigt, auch weil wir ein Projekt gestartet haben, ableismus.de, wo wir quasi aufzeigen, dass das, was in den Medien immer als tragischer Einzelfall dargestellt wird, in Wirklichkeit System ist. Also dass das strukturell bedingt ist, dass da regelmäßig Dinge passieren und immer, wenn Gerichtsverfahren stattfinden, dann die Personen auch nur versetzt werden oder vielleicht eine Therapie bekommen oder in eine psychiatrische Anstalt, aber nie ins Gefängnis. Es rollen nie Köpfe, ernsthaft. Und das ist schon interessant, wenn man das dann mal so dokumentiert, was da alles nicht passiert. Und diese Tat in Potsdam war vor zwei Jahren…
00:34:22
Sabine Rückert: Ja, da haben wir auch drüber berichtet. Also wir haben in der Zeit drüber berichtet auch.
00:34:26
Raúl Krauthausen: Ich weiß, aber auch erst, muss ich zugeben, als wir dann ein bisschen Rabatz gemacht haben. Ich glaube, da durfte ich dann auch ein Interview geben zu dem Thema. Aber, worauf ich hinaus will, ist: warum hat kein Journalist zwei Jahre später noch mal nachgefragt, was die Einrichtung eigentlich geändert hat? Warum stehen immer noch keine Gedenk-Stelen vor diesem Haus? Was sind eigentlich die Schutzmaßnahmen, die sie angekündigt haben, die gemacht werden? Wer bestimmt diese Schutzmaßnahmen? Sind es wieder nicht-behinderte Menschen, die sich am Ende gegenseitig attestieren, dass sie gute Arbeit mit Behinderten machen? Oder ist das wirklich unabhängig?
00:35:03
Sabine Rückert: Ja, das ist ein guter Hinweis. Das werde ich gleich mal weitergeben.
00:35:07
Raúl Krauthausen: Ein Service des Hauses (lacht). Aber gerade bei dir, mit dem Thema Recht…
00:35:12
Sabine Rückert: Ehrlich gestanden, unsere Kriminalberichterstattung besteht meistens daraus, dass uns einer anschreibt. Ehrlich gestanden. Wir entnehmen natürlich das eine oder andere den Zeitungen, aber das allermeiste, was du in der Zeitung liest bei uns oder im Kriminalpodcast hörst, hat uns irgendjemand mal geschrieben und hat gesagt: „Schaut doch mal dahin!“ oder „Ich kenne den und den.“ oder „Da gibt es etwa ein Missstand, schaut doch mal dahin!“ Und so kommen die Fälle zu uns.
00:35:43
Raúl Krauthausen: Was ich so erschreckend fand, nicht nur in diesem Fall, sondern auch in vielen anderen Fällen, das offensichtlich in jedem von uns, hat Hannah Arendt ja auch mal gesagt, dass Potenzial steckt, böse zu werden. Böse zu sein. Und das obwohl wir alle glauben, wir wären die Guten.
00:36:04
Sabine Rückert: Ja, das weiß ich. Dass jeder böse werden kann, davon bin ich überzeugt.
00:36:09
Raúl Krauthausen: Siehst du die Gefahr bei dir auch?
00:36:11
Sabine Rückert: Natürlich. Natürlich sehe ich die.
00:36:13
Raúl Krauthausen: Wie schützt du dich davor?
00:36:14
Sabine Rückert: Ja, ich schütze mich vor allem dadurch davor – also sagen wir es mal so, ich schütze mich persönlich nicht davor – aber ich habe mir eine Welt geschaffen, die mich davor schützt. Ich bin ja unter sozialer Kontrolle, ja? Also ich habe Leute, die mich… ich habe ja vorhin erzählt, wie ich bei der Bild-Zeitung war. Und da habe ich zum Beispiel gemerkt – oder nicht ich, sondern meine Umwelt hat gemerkt, dass ich mich verändere und nicht zum Guten. Und irgendwann hat mein Freund, mein heutiger Mann, damaliger Freund und auch meine Schwester, haben zu mir gesagt: „Du, wir kennen dich langsam nicht mehr wieder. Dieser Stress, unter den du da bei der Bild-Zeitung gesetzt wirst, den du ja dir auch selber antust…“ Also es ist ja nicht so, ich hätte da auch anders sein können. Also ich hätte da sehr viel mehr laissez-faire machen können. Aber ich habe mir gedacht: Ich habe jetzt diese Chance bekommen, diese Schule zu besuchen und jetzt bin ich in der ersten Station, und jetzt will ich es auch beweisen, dass ich dieses Glück, diesen Zufall, der mir diesen Platz in dieser Axel-Springer-Journalistenschule beschert hat, dass ich dieses Glücks auch wert bin. Und da habe ich mich dann reingehängt, heute würde ich sagen an der falschen Stelle, aber das habe ich damals nicht erkannt. Sondern darauf hat man mich dann hingewiesen und ich weiß nicht, ich bin dann ja auch gleich nach der Ausbildung gegangen. Ich lese ja die Bild-Zeitung bis heute und ich bin bis heute froh, dass ich da nicht mehr arbeiten muss. Aber ich habe damals eben erkannt, dass es um mich herum Leute gibt, die mir sagen: „Hier läuft was schief. Und du begibst dich in eine Gesellschaft und in einen Zustand, der nicht gesund ist. Und der hier nicht ins Gute führt.“ Und ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit, wie man sich schützen kann, in dem man andere damit beauftragt, einen darauf aufmerksam zu machen, dass was nicht stimmt.
00:38:14
Raúl Krauthausen: Gleich geht’s weiter. Wenn Du diesen Podcast unterstützen möchtest, dann kannst Du das mit einem kleinen monatlichen Beitrag tun. Im Gegenzug kannst Du aktuelle Folgen vorab hören. Und Du wirst, sofern du das möchtest, hier im Podcast auch namentlich genannt. Alle Infos findest Du auf raul.de/aufzug. Ende der Service-Durchsage, viel Spaß beim zweiten Teil der Folge.
00:38:47
Raúl Krauthausen: Nach vielen Stationen bist du dann stellvertretende Chefredakteurin bei der Zeit geworden. Das wird ja auch in der Regel dann nur eine Person, es gibt ja nicht viele, die das gleichzeitig sein können. Was macht eigentlich eine stellvertretende Chefredakteurin? Ist die näher am Blatt, an der Redaktion?
00:39:04
Sabine Rückert: Ja, also wir sind ja mittlerweile vier Stellvertreter. Am Anfang waren wir drei, das war als ich stellvertretende Chefredakteurin war, das war 2012, also vor elf Jahren. Und da war Bernd Ulrich, der war damals Chef des Politikteils, und Moritz Möhlerwirt, der ist gar nicht im Zeitungsgeschäft, sondern der macht die Personalsachen, also Stellenplan und Gehälter und so.
00:39:36
Raúl Krauthausen: Ein Stellen-Vertreter, hehe!
00:39:38
Sabine Rückert: Genau! (Lacht) Ein Stellen-Vertreter. Und ich mache die Titelgeschichten, also alles, was du auf der Eins siehst, mache ich. Dieses große Thema auf der Eins. Was machen wir diese Woche auf der Eins? Und ich vertrete natürlich im wahrsten Sinn des Wortes auch Giovanni, wenn der weg ist, wenn der Urlaub macht oder so. Und jetzt gibt es noch einen vierten Stellvertreter, das ist der Chef der Investigativ-Abteilung, Holger Stark.
00:40:05
Raúl Krauthausen: Und was machst du anders als die stellvertretenden Chefredakteur*innen bei der Bild?
00:40:12
Sabine Rückert: Tja, was die heute machen, das weiß ich nicht. Also ich hab sie natürlich damals gesehen. Es gab damals auch eine stellvertretende Chefredakteurin bei der Bild, als ich bei der Bild war. Bei der Bild waren damals zwei Chefredakteure. Oh Gott, wie hießen die denn? Wenn ich das gewusst hätte, dass du mich das fragst, dann hätte ich noch mal nachgeguckt.
00:40:33
Raúl Krauthausen: Du hast jetzt die Möglichkeit, Dinge anders zu machen. Und was würdest du gerne anders machen, was machst du bereits anders?
00:40:41
Sabine Rückert: Als bei der Bild-Zeitung? Na alles! Wir machen alles anders. Also es ist so: die Bild-Zeitung ist eine vollkommen andere Zeitung als die Zeit. Die Bild-Zeitung ist ein Polizeistaat. Es gibt ein top-down, da sitzt oben einer und dann geht der Befehl von oben nach unten durch. Und unten sitzt einer, das war zum Beispiel ich, am Fuße der Leiter, als Volontärin in der Bild-Zeitung in München. Und da hieß es: Frau Rückert, mach mal das und das. Der Chefredakteur hat beschlossen, wir wollen heute dieses Thema. Und dann bin ich rausgerannt und hab versucht es irgendjemandem recht zu machen, der da irgendwo oben hockt, den ich gar nicht kannte. Und bei uns ist die Zeit. Da sitzen Leute drin, die kann man nicht rumkommandieren oder sowas. Das sind ja alles Leute, die sind extrem schlau und extrem kompetent und wenn die keinen Bock haben, dann nehmen sie morgen ihren Hut und hauen ab. Also der Zeit-Chefredakteur ist ein Dirigent oder ein Gärtner, der mit einer Gießkanne rum geht und seine Kollegen gießt und ihnen Mut macht und ihnen Freude macht und dafür sorgt, dass sie guter Stimmung sind. Denn die Zeit lebt nicht vom top-down und nicht vom schnell zusammengeschusterten Irgendwas und witwen-geschüttelten Bildern, sondern die Zeit lebt von ihren Autoren. Das ist ein Konglomerat hochintelligenter Leute mit sehr vielen Bedenken und sehr vielen Skrupeln, und die muss man irgendwie zusammen pflegen. Aber wenn man da anfängt, hier irgendwie rum zu pöbeln oder Leuten zu sagen, machen Sie das mal anders oder so, dann ist man hier ganz schnell… Ich habe hier mehrere Chefredakteure untergehen sehen, die versucht haben, es so zu machen.
00:42:38
Raúl Krauthausen: Meine Frage war vielleicht auch ein bisschen provokant gestellt.
00:42:42
Sabine Rückert: Das ist doch gut! Ich liebe provokante Fragen. Die bringen mich in Fahrt.
00:42:46
Raúl Krauthausen: Wenn du sagst, dass die Zeit aus den Redakteur*innen besteht und weniger aus der Polizei-Obermufti, dann stelle ich mir die Frage, wie das da um das Thema Diversity zum Beispiel steht. Also ist Vielfalt dann, sagen wir mal, im Journalismus qualitativ messbar? Oder ist es dann vielleicht sogar etwas, was man machen muss, weil es alle so gerade machen sollen und gar nicht so sehr überzeugt ist, dass das besseren Journalismus macht, oder aber ist es einfach nur nervig?
00:43:20
Sabine Rückert: Nein, es ist überhaupt nicht nervig, es ist für uns ein riesen Thema. Nein, wir machen es nicht, weil es alle jetzt so machen sollen, sondern wir machen es, weil wir sonst den Anschluss an die Realität verlieren. Also wir wollen ja in der Zeitung die Gesellschaft abbilden. Und wir wollen, dass in der Zeitung sich die Gesellschaft widerspiegelt. Und wir wollen nicht – diese Zeiten kenne ich ja auch von der Zeit, als man als Elfenbeinturm-Gemeinschaft da saß und da hatte man mit der Bevölkerung praktisch nichts mehr zu tun. Und das hat dazu geführt, dass die Zeit einen erheblichen Verlust an Auflage hatte und kein Mensch sich mehr die Ergüsse der Zeit-Redakteure anhören wollte. Das habe ich erlebt. Und auch deswegen wurde die Zeit ja umgekrempelt, weil sie am Sterben war. Ende der neunziger Jahre lag sie im Sterben und das habe ich miterlebt. Also ich bin ja schon seit 31 Jahren hier, also ich habe schon allerhand erlebt hier in der Zeitung. Aber eben auch, als die Zeitung den Kontakt mit ihren Leser*innen verloren hatte. Und das soll uns eben nicht mehr passieren. Und deswegen sind wir am Thema Diversity natürlich interessiert und versuchen möglichst eine bunte Mischung und eine vielfältige Mischung an Autoren und Autorinnen hier unterzubringen. Und es ist jedes Mal bei jeder neuen Stelle ein Thema, na klar! Und auch die Frauen, also die Frauenförderung ist hier ein riesen Thema. Also die Ressorts werden immer von zwei Personen geleitet, einer männlichen und einer weiblichen, soweit es möglich ist. Manchmal passiert es auch dass es zwei weibliche oder zwei männliche sind.
00:45:09
Raúl Krauthausen: Meine These ist, dass diese Berichterstattung über Morde an behinderten Menschen oder Misshandlungen behinderter Menschen in diesen Einrichtungen durch behinderte Journalist*innen besser gewesen wäre, weil sie andere Fragen stellen würden.
00:45:23
Sabine Rückert: Das ist wahr, nur glaube ich, dass der Beruf des Journalisten mit Beeinträchtigung wirklich schwerer zu leisten ist, weil es ein Beruf ist der meistens auf Schnelligkeit – es geht jetzt um Beweglichkeit und um schnell da sein und um schnell was aus dem Ärmel schütteln. Gerade bei Kriminalsachen ist es einfach eine Sache der Beweglichkeit. Das ist im Feuilleton anders, also im Feuilleton kommt es auf die Mobilität nicht so an. Aber gerade bei Reportern oder so ist es entscheidend.
00:46:01
Raúl Krauthausen: Ja, oder man arbeitet in Teams.
00:46:03
Sabine Rückert: Ja, oder man arbeitet in Teams. Tun wir ja auch.
00:46:06
Raúl Krauthausen: Lass uns über die Zukunft des Journalismus sprechen. Ich habe vor ein paar Wochen mit einem relativ hohen Tier eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders gesprochen.
00:46:16
Sabine Rückert: Hier auch, in diesem Aufzug?
00:46:21
Raúl Krauthausen: Nein, privat war das ausnahmsweise. Und der erzählte mir, und das hat mir wirklich sehr zu denken gegeben, dass wir ganz oft in dem Journalismus, den wir jetzt gerade erleben, so Deutschlandfunk, Tagesschau, egal was, wir so eine Berichterstattung machen, wo wir eigentlich ganz oft Dinge erzählen, die noch gar nicht erzählenswert sind. Ja, also jetzt hat sich die Ampel-Koalition gerade irgendwie 100 Millionen Stunden eingesperrt und sich nicht geeinigt.
00:46:52
Sabine Rückert: Ja, ich weiß was du meinst.
00:46:53
Raúl Krauthausen: Und darüber wurde drei Tage lang berichtet, dass man sich nicht geeinigt hat. Anstatt einfach auch mal den Mumm zu haben und zu sagen, wir berichten erst, wenn es etwas Neues gibt. Anstatt immer zu sagen, eigentlich wissen wir nichts, aber so zu tun, als würde man es wissen, ist eigentlich auch eine Bankrott-Erklärung, oder nicht?
00:47:12
Sabine Rückert: Ist auf jeden Fall ein riesen Problem. Es ist vor allem natürlich für die ein Problem, die ununterbrochen auf Sendung sind. Also gerade deswegen ist es kein Zufall, dass du mit jemandem aus dem Fernsehen oder dem Hörfunk gesprochen hast, weil die natürlich rund um die Uhr senden. Und wenn dann irgendwas passiert, das weiß man ja auch bei großen Katastrophen, dass da ununterbrochen berichtet wird, obwohl gar nichts weiter passiert ist. Ich bin selber mal reingefallen mit so einer Sache, ganz furchtbar auf die Nase gefallen mit einem Titel. Das war, als die Lufthansa-Maschine, oder war es Hapag-Lloyd, eine Lufthansa-Tochter, das weiß ich jetzt nicht mehr, in Frankreich gegen diesen Berg geprallt ist. Kannst du dich erinnern?
00:47:53
Raúl Krauthausen: German Wings.
00:47:54
Sabine Rückert: German Wings war es, genau, du hast recht. Und die ist gegen den Berg geprallt und alle sind umgekommen. Und später hat sich herausgestellt, es war der Pilot. Aber: es ist an einem Dienstag passiert und ich hatte hier Chefredakteurs-Dienst und dann am Dienstag Mittag oder Nachmittag ist das passiert, und dann habe ich mir gedacht, wir müssen irgendwas machen. Und dann gab es eine Konferenz und dann haben wir uns zusammengesetzt und haben gesagt: Ja, das liegt bestimmt an dem Zustand dieser Maschine. Das ist bestimmt ein fürchterliches Versäumnis des Lufthansa-Betriebs und sonst was. Und dann haben wir einen Titel gemacht, den habe ich verantwortet, der hieß „Absturz eines Mythos“. Und ich würde mal sagen, es hat schon irgendwie gestimmt, denn es war natürlich ein Absturz eines Mythos insofern, als die Überwachung des Flugpersonals ja katastrophal war. Und der hatte ja über Jahre Medikamente eingenommen und war in irgendeiner psychiatrischen Behandlung, ohne dass das einer mitgekriegt hatte. Aber wir haben es eben in unserem ersten Zugang, anstatt das Maul zu halten, wie du gerade gesagt hast, haben wir dann eben ein Titel gemacht, dass wir davon ausgehen, dass die Maschine eben nicht flugtauglich war. Und das war einfach falsch. Es war falsch. In der Wirkung war der Titel richtig, aber im Moment war der total daneben. Und da habe ich das auch gemerkt, da habe ich mir auch gedacht, manchmal sollte man einfach… Und gerade bei der Zeit, wo man sich das hätte erlauben können, weil sie eben nicht immer zu reinquatscht. Das war ganz zu Anfang meiner Tätigkeit hier, da hätte ich einfach mal das Maul halten sollen, das stimmt. Ich habe nie wieder etwas Überstürztes danach gemacht. Das war mir eine Lehre.
00:49:50
Raúl Krauthausen: Und wie geht ihr dann in der Redaktion mit sowas um? Also wenn ein Fehler geschehen ist?
00:49:55
Sabine Rückert: Ich habe mich entschuldigt. Ich habe mich öffentlich entschuldigt dafür.
00:49:59
Raúl Krauthausen: Ein anderer Aspekt der Zukunft des Journalismus ist ja sicherlich, dass jetzt ganz viele Leute anfangen, Podcasts zu machen, Newsletter zu schreiben.
00:50:07
Sabine Rückert: Ja, das stimmt. Das ist eine richtige Pest.
00:50:10
Raúl Krauthausen: Genau! (Lachen) Dann auch teilweise hinter Paywalls zu kleben. Das kann ja auch nicht die Lösung sein, oder? Das jetzt jeder sein Medienhaus wird.
00:50:17
Sabine Rückert: Ja, es ist halt immer noch ein Zusatz. Wir leben halt in einer Zeit, die elektronisch ist und die extrem geschwind ist. Und ich benütze das ja auch. Ich glaube das es die Zeit in diesen überstürzten Zeiten eigentlich nur deshalb noch gibt, weil wir eben die lange Hintergrundgeschichte machen.
00:50:42
Raúl Krauthausen: Ihr nehmt euch die Zeit.
00:50:43
Sabine Rückert: Ja, diese Zeitung, die Zeit, die hat deswegen nur ihre Daseinsberechtigung, weil wir lange Hintergrundgeschichten machen. Die schnelle Geschichte läuft auf allen Kanälen gleichzeitig. Übrigens Podcast: es gibt richtig tolle Podcasts, also das muss man einfach sagen. Das müsste dich ja auch eigentlich freuen, weil es natürlich für Leute, die zum Beispiel nicht gut gucken können, ist ein Podcast eine richtig tolle Sache. Da kann er ohne eine Zeitung in die Hand zu nehmen oder ohne jetzt eine Lupe zu holen, kann er sich da richtig umfassend informieren lassen. Und ich bin ein großer Freund des Podcasts, auch deshalb.
00:51:24
Raúl Krauthausen: Wie wichtig ist den dir zum Beispiel das Thema, oder dem Journalismus allgemein? Es wurde ja auch ewig wie eine Sau durchs Dorf getrieben. Ich habe früher beim rbb gearbeitet, bei Radio Fritz, 2007 bis 2011, und da hieß es immer Hyperlocal Journalism ist das große Ding. Ich habe seitdem nichts mehr davon gehört.
00:51:43
Sabine Rückert: Was ist denn das?
00:51:44
Raúl Krauthausen: Also dass du erfahren kannst, was in deinem Bezirk, in deiner Straße passiert – hyperlocal.
00:51:52
Sabine Rückert: Ja, das ist ja das neue Prinzip des Tagesspiegels.
00:51:55
Raúl Krauthausen: Genau.
00:51:56
Sabine Rückert: Der ja auch zur Holtzbrinck Gruppe gehört. Die machen das, die haben jetzt eine riesen Berichterstattung. Das kann ich auch nachvollziehen. Ich wohne ja etwas außerhalb von Hamburg und da lese ich natürlich im Hamburger Abendblatt, dass ich sonst nicht so lese, lese ich natürlich die lokalen Sachen. Aber da steht nichts wirklich Interessantes drin, also die richtig spannenden Geschichten stehen da leider nur sehr bedingt drin. Ich finde, die machen das halt so Pi mal Daumen, so Pflichtstücke. Aber ich glaube, dass man in der lokalen Berichterstattung, wenn man an ein großes Haus angebunden ist, also sich nicht den lokalen Edeka günstig stimmen muss, damit der nächste Woche wieder… Das ist doch das Problem der Lokalen, dass die in diesem Filz untergehen, der wirtschaftlich bedingt ist, so das sie durch Anzeigen weiterleben können. Das ist ja das Problem der Lokalen und wenn man aber an einem großen Haus dranhängt und sich das erlauben kann, da kritische Berichterstattung zu machen, dann ist das eine tolle Sache. Eine tolle Sache!
00:53:12
Raúl Krauthausen: Wenn Hannah Arendt und du auch, ihr beide sagt, dass in jedem von uns das Potenzial zum Bösen steckt, dann fällt mir in dem Zusammenhang immer ein, dass Professor Dr. Philipp Zimbardo, der auch einer der großen Psychologen unserer Zeit ist, der ja bekannt geworden ist durch das Gefängnis-Experiment, was ja auch teilweise dann kritisch hinterfragt wird inzwischen.
00:53:35
Sabine Rückert: Was ist das für ein Experiment? Ist das so was ähnliches wie das – wie heißt das – das berühmte Experiment mit den Stromschlägen?
00:53:44
Raúl Krauthausen: Ja, das ist das, glaube ich, wo er seine Studierenden eingeteilt hat in Gefangene und in Wärter. Ja genau, das ist er, Philipp Zimbardo. Und der hat dann eben auch diese Erkenntnis gehabt mit dem Experiment…
00:53:49
Sabine Rückert: „Milgram“ heißt das! Jetzt fällt es mir ein.
00:53:59
Raúl Krauthausen: Kann sein, ja. Und das in jedem von uns das Potenzial zum Bösen steckt, hat er quasi damit auch beweisen können. Und er hat dann aber in den neunziger Jahren die These aufgestellt, dass in jedem von uns auch das Potenzial zum Guten steckt.
00:54:14
Sabine Rückert: Ja, natürlich.
00:54:15
Raúl Krauthausen: Praktisch als Gegenthese. Und dass man das auch lehren kann, genauso wie man die Menschen motivieren kann böse zu werden, könnte man sie auch motivieren gut zu werden. Ist denn so eine Art konstruktiver Journalismus ein Weg in diese Richtung?
00:54:31
Sabine Rückert: Ja, natürlich. Und auch ein anständiger Journalismus.
00:54:37
Raúl Krauthausen: Aber auch anstrengend.
00:54:38
Sabine Rückert: Anständigkeit ist immer anstrengend. Aber in the long run weniger anstrengend als böse zu sein. Ich glaube, böse zu sein, ist auf Dauer extrem anstrengend. Weil man natürlich auch irgendwann sozial vollkommen vereinsamt ist. Also, es hat hohe Kosten. Es hat hohe persönliche Kosten, bösartig zu sein. Aber der Journalismus trägt natürlich dazu bei, gut oder böse zu sein und die Leute gut oder böse zu machen. Also es gibt ja auch Situationen, in denen ein ganzes Volk, eine ganze Gesellschaft kippt, ins Böse. Das haben wir ja bei der NS-Zeit gesehen. Das sieht man auch heute noch, wenn man Failing States sieht, wenn da die Gewalt alles an sich reißt, und wenn die Gesetze nicht mehr gelten, wenn niemand mehr sich an Absprachen hält, sondern nur noch der Stärkere regiert. Das gibt es, dass Gesellschaften ins Böse kippen, das ist ja auch die Angst, die Donald Trump verbreitet. Das ist ja auch die Angst, die er auslöst bei uns und auch bei vielen Leuten in den USA. Dass er etwas Böses an sich hat, und etwas Bösartiges, etwas Zerstörerisches.
00:55:50
Raúl Krauthausen: Aber wie kann man sich davor schützen? Deutschland ist ja vielleicht, was das angeht, 20, 30 Jahre hinter den USA, was diese Spaltung angeht. Aber wie können wir das Ruder noch herumreißen?
00:56:02
Sabine Rückert: Ja, das sieht man ja auch gerade in Israel, was da los ist. In Israel geht es ja auch darum, dass es eine bestimmte, interessengeleitete Gruppe gibt, die im Moment die Regierung stellt. Und die versucht, alle Kontrollmechanismen – und jetzt sind wir bei der Eingrenzung des Bösen – das Böse kommt ja oft aus dem Gefühl der Übermacht, aus dem Gefühl, keine Grenzen zu haben, keine Grenzen zu brauchen. Und das ist natürlich immer der Anfang vom Ende. Wenn die Leute keine Grenzen haben und wenn niemand kommt und sagt: „Nein, so geht das nicht, jetzt ist Schluss!“, dann beginnt ein Eigenleben, das selten zum Guten führt. Und deswegen will man ja auch in Israel im Moment, versucht die Regierung ja auch, das sie kontrollierende oberste Gericht abzuschaffen oder auf jeden Fall so zu schwächen, dass sie durchregieren können. Das ist immer das Problem von Regierungen, dass sie natürlich ihre Gegner, dazu gehört auch die Presse, loswerden wollen. Und darin besteht ja auch der Kampf, ehrlich gestanden, man kann dagegen nur kämpfen. An der Stelle, an der man steht, an der Stelle, an der man schreibt, wenn man im Journalismus ist und wenn man in den Institutionen ist oder in der Politik. Dass man das erkennt, dass eine solche schädliche Entwicklung einsetzt und sich dagegen einsetzt und sich dagegen wehrt. Das ist die Bürgerpflicht, je nachdem, wo man gerade ist.
00:57:29
Raúl Krauthausen: Wie hast du denn das Gute in dir bewahrt, wenn du quasi als Journalistin in Gerichtssälen gesessen hast, wo die bösesten aller Bösen dann letztendlich auch waren und saßen, dass du den Glauben an die Menschheit nicht verloren hast?
00:57:44
Sabine Rückert: Nö, ich bin ja hier umgeben von netten Leuten. Also ich komme hier morgens rein und mein Leben lang bin ich umgeben von netten Leuten. Diese bösartigen Figuren, die sind nur beruflich. Ich habe in meinem privaten Leben schon den einen oder anderen wirklichen Widerling erlebt, aber nur ganz selten. Die haben sich dann gleich wieder verflüchtigt, die haben sich nicht festgesetzt in meinem Leben.
00:58:10
Raúl Krauthausen: Aber hat deine Arbeit mit dem Blick auf den Tod nicht irgendwas auch mit dir gemacht?
00:58:14
Sabine Rückert: Ja, ich bin dankbar. Ich habe eine große Dankbarkeit empfunden. Ich habe vieles, was ich für selbstverständlich gehalten habe, mein Elternhaus, meine Gesundheit, all diese Dinge. Dass ich nette Leute um mich habe, dass ich halbwegs verständig bin, dass ich nicht naiv bin und irgend jemandem in die Falle gelaufen bin, wie es ganz, ganz oft passiert. All diese Dinge, dass mir all das erspart geblieben ist. Und auch all das erspart geblieben ist, was mich böse macht. Also mit Leuten, die auf der Anklagebank sitzen, kann man oft Mitleid haben. Die haben einen langen Weg hinter sich, bis sie so geworden sind, wie sie sind, und keinen guten. Und ich habe mich oft gefragt, wie ginge es mir, wenn ich jetzt da säße? Ich finde, dass Gerichtsprozesse erstens die Leute milder machen. Also jeder, der in einem Gericht sitzt, da sitzt keiner drin der hinterher für irgend jemanden die Todesstrafe fordert. Jeder sieht, wie Menschen zu dem werden, was sie sind. Deswegen sind Gerichtsprozesse so unglaublich wichtig und interessant, weil das Böse und seine Entstehung dort auseinandergenommen wird. Und am Schluss weiß man, was von was kommt. Und man ist, wenn man das häufiger erlebt, dankbar, dass einem vieles erspart geblieben ist, was einen hätte zu einem bösen Menschen machen können. Die Option, die hatte ich auch, die Anteile habe ich auch.
00:59:47
Raúl Krauthausen: Du hast gerade deine Eltern erwähnt, deine Familie, in der du aufgewachsen bist, die sehr religiös war oder wahrscheinlich noch ist…
00:59:56
Sabine Rückert: Meine Eltern sind tot, da ist niemand mehr religiös. Die müssen jetzt entweder wissen, was los ist oder nicht.
01:00:01
Raúl Krauthausen: Der Rest der Familie, meine ich. Du sagst selber, dass du aber mit dem Glauben an der einen oder anderen Stelle dann doch auch hadertest.
01:00:08
Sabine Rückert: Ja, natürlich. Also ich mache ja meinen Bibel-Podcast, da mache ich ja mit meiner Schwester die Bibel durch. Da erzählen wir ja, weil die Bibel eigentlich unlesbar ist in ihrer Altertümlichkeit und in ihrem Aufzählungswahn und in ihrem uralten Sound, und man muss so viel Hintergrundwissen haben, um das alles zu verstehen. Deswegen haben wir beschlossen, wir erzählen die Bibel und zwar für jeden, der sich dafür interessiert. Und je weniger Ahnung er hat, umso interessanter ist es für ihn. Weil sie einfach ein riesiges Kulturgut ist, sie ist ein großes Buch der Menschheit. Und ich glaube nicht, dass da ein einziger Funken von Gott drin ist. Also mit Gott hat das alles nichts zu tun, sondern es ist Menschenwerk. Und ein großes Buch auch über Verbrechen und auch über Behinderung. Also es gibt ganz, ganz viele… Einschränkung ist ein ganz häufiges Thema in der Bibel, gerade im Neuen Testament, aber auch im Alten. Alles, was dem Menschen begegnet, wird dort überlegt und erzählt und hin und her gewendet und das ist unglaublich wertvoll, finde ich. Und deswegen würde ich jedem Kind die Bibel erzählen. Da sind auch große Erkenntnisse drin von Menschen. Aber ich halte es nicht für ein göttliches Buch.
01:01:31
Raúl Krauthausen: Ja, also du hast gerade das Thema Behinderung genannt und Kirche. Ich habe manchmal, ich als Agnostiker, sagen wir mal, ich bin Agnostiker, habe trotzdem große Probleme, wenn im kirchlichen Kontext, im Christentum, die Nächstenliebe und Behinderung so zusammengelegt wird und es dann so etwas Paternalistisches sehr schnell bekommt. Was dann im Journalismus auch kaum hinterfragt wird zum Beispiel. Ich frage mich, wie passt eigentlich Glaube und knallharter Journalismus für dich zusammen?
01:02:05
Sabine Rückert: Sehr gut. Also, ich habe keinen Missionsauftrag, null. Ich bin zwar das Kind von Pfarrersleuten, ich habe auch eine Schwester, die Theologin ist, aber ich habe keinen Auftrag. Ich habe nur den Auftrag, die Wahrheit zu sagen. Und das versuche ich, auch wenn es nicht immer schön ist. Aber einen anderen Auftrag habe ich nicht. Und was ist Wahrheit?
01:02:36
Raúl Krauthausen: Bekommst du dann von Kirchenanhänger*innen großen Widerspruch? Oder gibt es dann da Ärger, wenn du sagst: „Leute, das ist aber auch großer Bockmist, der da teilweise erzählt wird!“?
01:02:48
Sabine Rückert: Nein, das sage ich nicht. Ich sage nicht, dass es Bockmist ist, weil es nicht stimmt, dass es Bockmist ist, aber ich sage, dass ich das alles in einem Zusammenhang sehe. Also die Bibel ist ein Buch der Geschichten, das macht sie ja so berühmt, jeder kennt die Geschichte von David und Goliath, die ist jetzt 5000 Jahre alt. Wir kennen sie immer noch. Das muss man erst mal schaffen. Oder die Teilung des Meeres oder solche unglaublichen Fantasien, die bis heute ganz Hollywood beflügeln. Aber natürlich, ich habe da schon Respekt davor. Also es ist jetzt nicht so, dass ich sage, es ist alles Bockmist, sondern ich sage, es sind Interessen. Die Menschheit neigt zur großen Geschichte, zur großen Geste. Die Menschheit neigt aber auch zum interessen-geleiteten Schreiben. Und die Bibel ist eine einzige Interessens-Schrift. Das haben Priester geschrieben, die wollten, dass Gesetze eingehalten werden. Und deswegen kam die Geschichte mit den zehn Geboten. Also daran sieht man, wie sich eine Gesellschaft formiert. Eine Gesellschaft die größer ist als ein paar People und größer als ein Clan, wo oben Papa sitzt, der alles sagt. In dem Moment, wo es zu groß wird, braucht man Absprachen und an die müssen sich alle halten. Und dann braucht man Gebote und die sind dann eben, es waren ja deutlich mehr als zehn Gebote, die die sich da ausgedacht haben damals. Man hat es aber auf zehn dann runter, weil der Mensch hat zehn Finger und da kann man dann die Gebote dran aufhängen. Und die wichtigsten kann man sich, kann sich jeder Esel dann merken. So ist das gekommen. Also nicht Gott hat die geschrieben.
01:04:22
Raúl Krauthausen: Ja, schon klar, historisch gesehen, ich verstehe das. Aber wie sie jetzt quasi ausgeführt und gelebt wird, das Kirchen ein eigenes Arbeitsrecht haben, mit eigenem rechtlichen Rahmen, dass Kirchen einen großen Teil der Wohlfahrts-Betriebe in Deutschland betreiben, großes Marketing damit machen können, obwohl 97 Prozent bereits vom Steuerzahler bezahlt wird, dass Kirchen das Recht haben, die Kirchensteuer einzuziehen…
01:04:49
Sabine Rückert: Das ist die große Absprache, dass sich die Kirche dazu bereit erklärt hat, die Opfer des Kapitalismus aufzufangen (lacht). Dafür bekommt sie Geld vom Staat.
01:05:00
Raúl Krauthausen: Genau, aber dass das dann ganz viele Skandale auch wieder mit sich gebracht hat, Kindesmisshandlungen in Einrichtungen, die bis heute nicht ernsthaft aufgeklärt werden.
01:05:10
Sabine Rückert: Ich weiß das.
01:05:11
Raúl Krauthausen: Ja, natürlich.
01:05:12
Sabine Rückert: Wir haben ja auch selbst darüber einen Podcast gemacht, über solche Sachen. Ich weiß das. Also ich bin nicht in der Kirche, ich kann nichts dafür. Ich würde aber allerdings auch nicht austreten, weil diese Skandale gibt es, aber es gibt eben auch wirklich viele richtig nette Leute und engagierte Leute. Es ist eine Institution, die jedenfalls irgendwann mal etwas Gutes wollte, und deswegen bin ich da.
01:05:36
Raúl Krauthausen: Du hast mal gesagt, dass der Glaube auch unglaublich befreiend ist. Also zu wissen, dass es eine höhere Instanz gibt, auch mit all den ganzen Schrecklichkeiten, die damit einhergehen. Kannst du das noch mal erklären, erläutern wie du das meinst?
01:05:53
Sabine Rückert: Ja, daran halten sich viele fest. Also in unserem Podcast „Unter Pfarrerstöchtern“ haben wir in einer Folge mal gemacht „Macht und Machtmissbrauch“ heißt das, glaube ich. Ich weiß es jetzt nicht mehr – oder „Macht und Gewalt“. Eine dieser Folgen, die haben wir, glaube ich zu Ostern letztes Jahr gemacht. Da geht es natürlich immer um die Propheten. Die Propheten waren unglaublich mutige Leute, die von einer höheren Macht beseelt den regierenden Königen entgegengetreten sind und oft genug dafür geköpft wurden. Also es ist jetzt nicht so, dass Prophet sein ein lustiges Leben war, sondern das war meistens fürchterlich. Und manche Propheten sind auch nackt durch die Straßen gelaufen, um zu zeigen, dass sie eben nichts brauchen. So wie Diogenes in seinem Fass. Also die Aufgabe, die Macht zu kontrollieren, ist eigentlich immer eine Aufgabe der Propheten gewesen. Und ein bisschen ist es auch wie heute die Aufgabe der Presse. Also die Journalisten sind die Nachfolger der Propheten. Und wir haben in dieser Folge, deren Titel mir jetzt nicht mehr einfällt, dieser Osterfolge 2022, soweit ich mich entsinne, bei den Pfarrerstöchtern, haben wir eine Geschichte, einen Text vorgelesen von Nawalny. Nawalny, der ja sterbenskrank hier in Deutschland ankam, vergiftet. Und aufgepäppelt wurde und dann zurückgegangen ist nach Russland, wo er sofort vor Gericht gestellt worden ist und verurteilt worden ist zu 100.000 Jahren Lagerhaft. Und als er da verurteilt worden ist, hatte eine lange Rede gehalten und hat gesagt, eine unglaublich tolle prophetische Rede, in der er gesagt hat, dass wenn er aufhören würde zu glauben, dass es eine höhere Macht und eine höhere Gerechtigkeit gibt, dass er diesen Kampf nicht durchhalten würde. Er sitzt mit der Bibel, das schreibt auch in dieser Rede, er sitzt mit der Bibel in seiner Zelle und er weiß, er ist nicht allein. Und das gibt ihm die Kraft. Was soll ich dem entgegensetzen? Wenn er so redet, dann redet er so.
01:08:10
Raúl Krauthausen: Das kann man eigentlich jetzt gar nicht noch toppen mit einer Frage, die die jetzt vielleicht fast schon banal werden würde, wenn wir das Interview fortsetzen würden. Außer vielleicht mit der einzigen Frage, gibt es eine Organisation oder einen Verein, die du für besonders unterstützenswert hältst? Wo unsere Hörerinnen und Hörer sich vielleicht auch mal informieren könnten.
01:08:33
Sabine Rückert: Ja, es gibt ganz viele Vereine, die ich für unterstützenswert halte. Vorneweg die Tafel. Mein Mann und ich, wir interessieren uns ja auch sehr dafür. Es gibt ja auch den Dönhoff-Preis der Zeit, wo jedes Jahr Leute ausgezeichnet werden, die sich besonders um die Gemeinschaft verdient machen. Und da gehen wir jedes Jahr hin und hören uns diese ganzen Veranstaltungen an und die Reden und die Laudatien und die Leute selber, was die erzählen. Und dann an Weihnachten wissen wir dann wieder, wo wir spenden. Und da gibt es natürlich die Tafel, die finde ich ganz toll! Dann gibt es Hamburg Help für Geflüchtete, Kleider. Dann gibt es die Herzbrücke – mein Mann hatte eine Herzoperation, da habe ich die Herzbrücke kennengelernt. Der Chefarzt, der ihn da operiert hat, der hat ihm hinterher Unterlagen über die Herzbrücke gegeben. Der operiert Kinder aus Ländern der südlichen Halbkugel, die verloren wären in ihrer Heimat, weil sie komplexeste Leiden am Herzen haben. Und die werden dann her geflogen und werden auf Kosten der Herzbrücke operiert, von diesem Team, das auch hier meinen Mann operiert hat. Das ist ein ganz toller Laden. Und dann natürlich die Ärzte ohne Grenzen.
01:10:04
Raúl Krauthausen: Ja das ist eine sehr großartige Organisation.
01:10:06
Sabine Rückert: Also ich hab mir gedacht, ich überlege ja jetzt auch die ganze Zeit, was ich mache, wenn ich aufhöre bei der Zeit. Also ich bin ja jetzt 62, im Prinzip könnte ich jetzt aufhören langsam. Und ich überlege mir natürlich, ob ich meine Lebensarbeitszeit vollende und wenn ja, was ich danach mache oder wenn nein was ich dann mache. Und natürlich überlege ich mir dann, ob ich nicht irgendwie ein soziales Jahr mache (lacht). Es gibt ja die große Diskussion, ob nicht auch Leute nach der Berufstätigkeit ihr soziales Jahr machen könnten. Ich finde das ist eine gute Idee. Ich finde nicht, dass die jungen Leute, die sowieso schon zugemüllt werden von uns mit allem Möglichen, die sollen die Welt retten und dann sollen sie noch das Bruttosozialprodukt steigern und dann sollen sie noch unsere Renten bezahlen und sollen noch zehn Kinder kriegen, damit die Bevölkerung wieder stimmt. Also wenn ich das alles höre, dann wird es mir schon schlecht. Und oben sitzen dann die Boomer und machen es sich gemütlich. So sehe ich es und ich finde es furchtbar! Und da habe ich mir auch gedacht, ich mache vielleicht ein soziales Jahr, wenn ich hier fertig bin.
01:11:15
Raúl Krauthausen: Das ist eine schöne Idee.
01:11:16
Sabine Rückert: Ja, finde ich auch.
01:11:17
Raúl Krauthausen: Und auch ein schöner Gedanke, den wir mitnehmen könnten, zum weiter Nachdenken. Vielleicht eine kleine Inspiration für dich: ich habe vor ein paar Tagen Martin Speer getroffen. Und Martin Speer hat unter anderem mit seinem Kompagnon die Initiative gestartet, vor vielen Jahren, das EU-Mitglieder, die 18 werden, automatisch in diese Lotterie geraten, ob sie ein Interrail-Ticket bekommen oder nicht. Vielleicht nicht automatisch aber auf jeden Fall gibt es eine Lotterie für alle die in der EU 18 werden. Das finde ich eine total gute Idee. Wir arbeiten jetzt daran, sich zu überlegen, ob das nicht auch für Menschen gelten sollte, die ins Renteneintrittsalter kommen. Also dass sie quasi nach ihrem Arbeitsleben noch mal die Gelegenheit bekommen, kostengünstig Europa kennen zu lernen.
01:12:05
Sabine Rückert: Ja, man will natürlich auch damit erreichen, dass sie aufhören, mit ihren SUVs herum zu fahren.
01:12:11
Raúl Krauthausen: Und vielleicht aber auch um aufzuhören mit ihrem ganzen Rechtsruck. Zu glauben, ihr Land sei das jeweils beste, wenn sie mal die Gelegenheit bekommen, die anderen Länder auch kennen zu lernen.
01:12:21
Sabine Rückert: Ja, das mache ich auch. Ich werde ganz bestimmt jetzt anfangen, andere Länder kennen zu lernen, da freue ich mich schon drauf. Jetzt habe ich auch keine Flugangst mehr, Raúl!
01:12:30
Raúl Krauthausen: Oh, wie hast du das geschafft?
01:12:31
Sabine Rückert: Die Flugangst hat sich mit den Jahren selbst aufgelöst.
01:12:34
Raúl Krauthausen: Wow, gratuliere!
01:12:35
Sabine Rückert: Ich habe auch ganz von selber aufgehört zu rauchen. Ist auch interessant. Eines Tages hatte ich keine Lust mehr. Und so ist es mit der Flugangst auch gegangen. Eines Tages hatte ich einfach keine Angst mehr.
01:12:44
Raúl Krauthausen: Toll, das freut mich!
01:12:45
Sabine Rückert: Ja, Dankeschön!
01:12:47
Raúl Krauthausen: Vielen Dank, liebe Sabine!
01:12:50
Sabine Rückert: Vielen Dank, lieber Raúl, für deine tollen Fragen. Es war ein sehr, sehr interessantes Gespräch für mich.
01:12:54
Raúl Krauthausen: Das freut mich. Vielen Dank!
01:12:56
Sabine Rückert: Tschüss!
01:12:57
Raúl Krauthausen: Tschüss!
01:13:00
Raúl Krauthausen: Danke fürs Mitfahren. Wenn ihr mögt und euch diese Folge Spaß gemacht hat, bewertet diese Folge bei Apple Podcast, Spotify oder wo auch immer ihr zuhört. Alle Links zur Folge, sowie die Menschen, die mich bei diesen Podcast unterstützen, findet ihr in den Show Notes. Schaut da gerne mal rein. Wenn ihr meine Arbeit unterstützen möchtet, würde ich mich freuen, euch bei Steady zu begrüßen. Mit einer Steady-Mitgliedschaft bekommt ihr exklusive Updates von mir und die Gelegenheit, mich zweimal im Jahr persönlich zu treffen. Im Aufzug ist eine Produktion von Schönlein Media. Ich freue mich auf das nächste Mal, hier im Aufzug.
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Dieser Podcast ist eine Produktion von Schønlein Media.
Produktion: Fabian Gieske , Anna Germek
Schnitt und Post-Produktion: Jonatan Hamann
Coverart: Amadeus Fronk